Bonjour Tristesse
während der
Mahlzeiten gegen meinen Willen ein ängstliches Schweigen, das schließlich
bedrückend für die anderen wurde. Ich ließ Anne nicht aus den Augen,
beobachtete sie ununterbrochen und sagte mir während der ganzen Mahlzeit immer
wieder: ›Diese Bewegung, mit der sie sich ihm zugewandt hat, ist das nicht
Liebe, eine Liebe, wie er sie nie mehr haben wird? Und die Art, wie sie mich
anlächelt, mit diesem Schatten von Unruhe in den Augen, wie konnte ich ihr nur
böse sein?‹ Aber dann sagte sie plötzlich: ›Wenn wir wieder in Paris sind,
Raymond...‹ Und schon sträubte ich mich gegen die Vorstellung, daß sie in unser
Leben eindringen, es mit uns teilen würde. Sie schien mir nur aus Kälte und
Berechnung zu bestehen. Ich sagte mir: ›Sie ist kalt, wir sind warm. Sie ist
herrisch, wir sind unabhängig. Sie ist gleichgültig, die Menschen interessieren
sie nicht, und wir nehmen leidenschaftlich Anteil an ihnen. Sie ist
zurückhaltend, und wir sind lustig. Nur wir zwei, mein Vater und ich, sind
wirklich lebendige Menschen, und sie wird sich mit ihrer Ruhe zwischen uns
schleichen, sie wird sich an uns erwärmen und uns nach und nach unsere gute,
sorglose Wärme nehmen, sie wird uns alles stehlen wie eine schöne Schlange.«
Ich wiederholte leise für mich: ›Eine schöne Schlange... eine schöne Schlange!«
Sie reichte mir das Brot, und plötzlich wachte ich wieder auf und rief mir
selber zu: ›Aber das ist doch verrückt! Es ist Anne, die intelligente Anne, die
sich deiner angenommen hat. Ihre Kühle ist ihre Lebensform, du kannst keine
Berechnung darin sehen; ihre Gleichgültigkeit schützt sie vor tausend
schmutzigen kleinen Dingen, sie ist ein Beweis für ihre vornehme Gesinnung. —
Eine schöne Schlange...« Ich fühlte, wie ich blaß wurde vor Scham; ich blickte
sie an und bat sie lautlos um Vergebung. Manchmal überraschte sie mich bei
einem dieser Blicke. Erstaunen und Unsicherheit verdunkelten ihre Züge, und sie
brach mitten in einem Satz ab. Instinktiv suchte sie den Blick meines Vaters;
er sah sie mit Bewunderung oder voll Verlangen an und verstand die Ursache
ihrer Unruhe nicht. So erreichte ich schließlich nach und nach, daß die
Atmosphäre erstickend wurde, und verabscheute mich dafür...
Mein Vater litt darunter, soweit es ihm
in seiner Lage möglich war zu leiden. Das heißt: er litt wenig, denn er war
verrückt nach Anne, verrückt vor Stolz und Begierde, und lebte für nichts
anderes. Eines Tages jedoch, als ich nach dem ersten morgendlichen Bad im Sand
lag und schon halb eingeschlafen war, setzte er sich neben mich und sah mich
an. Ich spürte seinen Blick wie ein Gewicht. Ich wollte aufstehen und ihm mit
der falschen Fröhlichkeit, die mir zur Gewohnheit geworden war, vorschlagen,
ins Wasser zu gehen, als er seine Hand auf meinen Kopf legte und mit erhobener,
klagender Stimme sagte:
»Anne, komm und schau dir diese
Heuschrecke an! Sie ist nur noch Haut und Knochen. Wenn das Lernen so eine
Wirkung auf sie hat, muß sie damit aufhören.«
Er glaubte, daß damit wieder alles in
Ordnung sei, und vor zehn Tagen wäre das auch zweifellos der Fall gewesen. Aber
ich war schon viel tiefer verstrickt, und die Arbeitsstunden am Nachmittag
störten mich nicht mehr — allerdings hatte ich auch seit Bergson kein Buch mehr
geöffnet.
Anne näherte sich uns. Ich blieb
bäuchlings im Sande liegen und horchte aufmerksam auf das dumpfe Geräusch ihrer
Schritte. Sie setzte sich an meine Seite und murmelte: »Es ist wahr, daß es ihr
nicht bekommt. Übrigens würde es völlig genügen, wenn sie wirklich arbeitete,
anstatt in ihrem Zimmer herumzugehen.«
Ich drehte mich um und sah die beiden
an. Woher wußte sie, daß ich nicht arbeitete? Vielleicht hatte sie sogar meine
Gedanken erraten; sie ist zu allem fähig, dachte ich. Und das machte mir Angst.
»Ich gehe nicht in meinem Zimmer
herum«, protestierte ich. »Ist es dieser junge Mann, der dir fehlt?« fragte
mein Vater.
»Nein!«
Das stimmte nicht ganz. Aber es war
wahr, daß ich keine Zeit hatte, an Cyril zu denken.
»Und trotzdem bist du in keinem guten
Zustand«, sagte mein Vater streng. »Anne, schau, wie sie aussieht. Sie ähnelt
einem ausgenommenen Huhn, das man in der Sonne gebraten hat.«
»Meine kleine Cecile«, sagte Anne,
»streng dich etwas an. Arbeite ein bißchen und iß viel. Dieses Examen ist
wichtig...«
»Ich pfeife auf mein Examen«, rief ich,
»versteht ihr, ich pfeife darauf!«
Ich blickte ihr voll ins
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