Bonjour Tristesse
Tages hätte er
Sie betrogen, und Sie hätten das nicht ertragen, nicht wahr? Sie gehören nicht
zu den Frauen, die teilen können. Sie wären weggefahren, und genau das wollte
ich erreichen. Ja, es ist dumm, ich war böse auf Sie wegen Bergson, wegen der
Hitze; ich bildete mir ein, daß... nein, ich wage nicht, es zu sagen, es ist zu
lächerlich, zu absurd. Nur wegen dieser Reifeprüfung hätte ich es über mich
gebracht, Sie mit uns zu entzweien. Sie, Anne, die Freundin meiner Mutter,
unsere Freundin. Und dabei ist die Reifeprüfung sicher sehr nützlich, nicht
wahr?‹
»Nicht wahr?«
»Nicht wahr was?« sagte Anne. »Daß die
Reifeprüfung nützlich ist?«
»Ja«, sagte ich.
Im Grunde war es besser, ihr nichts zu
sagen, sie hätte es vielleicht nicht verstanden. Es gab Sachen, die Anne nicht
verstand. Ich warf mich ins Wasser und schwamm meinem Vater nach, ich kämpfte
mit ihm und fand sie wieder, die Freude am Spiel, am Wasser, an einem guten
Gewissen. Morgen würde ich mein Zimmer wechseln, ich würde mich mit meinen
Schulbüchern auf dem Dachbodeneinquartieren. Allerdings ohne Bergson, den würde
ich nicht mitnehmen; man mußte nicht gleich übertreiben! Zwei gute Stunden
Arbeit, der Geruch von Tinte und Papier, Einsamkeit, stilles, angestrengtes
Lernen... Der Erfolg im Oktober, das erstaunte Lachen meines Vaters, das
beifällige Lächeln Annes, das Zeugnis! Ich würde intelligent, gebildet und
etwas teilnahmslos sein wie Anne. Vielleicht schlummerten intellektuelle
Möglichkeiten in mir... Hatte ich nicht in fünf Minuten einen zwar schnöden,
aber durchaus logischen Plan ausgeheckt? Und Elsa! Ich hatte sie bei ihrer
Eitelkeit und ihrer Sentimentalität gepackt und sie in ein paar Augenblicken
überzeugt — dabei war sie doch nur gekommen, um ihre Koffer abzuholen. Das war
übrigens merkwürdig: Ich hatte Elsa aufs Korn genommen, ihre verwundbare Stelle
entdeckt und gut gezielt, bevor ich zu sprechen begann. Zum erstenmal hatte ich
erlebt, was für ein außerordentlicher Genuß es ist, ein Wesen zu durchschauen,
hinter sein Geheimnis zu kommen, dieses ans Licht zu bringen und mitten ins
Schwarze zu treffen. So wie man eine Sprungfeder leise berührt, die im gleichen
Augenblick losschnellt, hatte ich versucht, behutsam, mit äußerster Vorsicht
ihr Wesen zu ergründen — und schon hatte es sich offenbart.! Getroffen! Ich kannte
das nicht, ich war immer viel zu impulsiv gewesen. Wenn ich einen Menschen
getroffen hatte, so nur aus Versehen. Plötzlich ahnte ich, wie wunderbar j der
Mechanismus menschlicher Reflexe, wie groß die Macht des Wortes war... Wie
schade, daß mir diese Erkenntnis durch die Lüge kam! Eines Tages würde ich
jemanden leidenschaftlich lieben, und ich würde auf diese Art einen Weg zu ihm
suchen, mit Vorsicht, mit Zartheit, mit zitternder Hand...
DRITTES KAPITEL
A m nächsten Morgen, auf dem Weg zu
Cyrils Villa, war ich in bezug auf meine geistigen Fähigkeiten weit weniger
selbstsicher. Zur Feier meiner Heilung hatte ich beim Abendessen sehr viel
getrunken und war mehr als vergnügt gewesen. Ich erklärte meinem Vater, daß ich
eine Literaturprüfung machen und mit gelehrten Männern Umgang pflegen würde und
daß ich berühmt und unerträglich langweilig werden wollte. Und er sollte die
ganze Macht der Reklame und des Skandals entfalten, um mich zu lancieren. Wir
kamen auf die albernsten Ideen und lachten, bis wir nicht mehr konnten. Anne
lachte auch, aber weniger laut und mit einer Art milder Nachsicht. Von Zeit zu
Zeit lachte sie gar nicht, wenn meine Vorschläge, wie ich zu lancieren sei,
über den Rahmen der Literatur und des einfachen Anstandes hinausgingen. Aber
mein Vater war so offensichtlich glücklich darüber, wieder dumme Witze mit mir
machen zu können, daß sie nichts sagte. Schließlich brachten sie mich zu Bett
und deckten mich zu. Ich dankte ihnen leidenschaftlich und sagte, daß ich nicht
wüßte, was ich ohne sie machen würde. Mein Vater wußte es auch nicht, aber Anne
schien eine ziemlich brutale Antwort bereit zu haben, doch als ich sie bat, sie
mir zu sagen, und sie sich über mich beugte, übermannte mich der Schlaf.
Mitten in der Nacht wurde mir schlecht.
Das Aufwachen am Morgen war unangenehmer als alles, was ich bisher in dieser
Beziehung erlebt hatte. Mit vagen Gedanken und zögerndem Herzen ging ich auf
den Fichtenwald zu, ohne das morgendliche Meer und die aufgeregten Möwen zu
bemerken.
Ich sah Cyril am Eingang des Gartens
stehen. Er stürzte
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