Bookman - Das ewige Empire 1

legen …
    Â»Lucy!«
    Der Schrei entfuhr ihm wie eine gezackte Klinge, die seine
Eingeweide aufriss. Er stieg in die Luft auf, wo er kurz zu verharren schien, um
sich dann in seine Bestandteile aufzulösen, die wie Staubpartikel langsam nach
unten rieselten …
    Lucy hielt inne, richtete sich auf und drehte sich zu Orphan zurück.
Ihre Blicke begegneten sich. Strahlend lächelte sie ihn an, glücklich, dass er
gekommen war.
    Das Buch befand sich noch immer in ihren Händen.
    Â»Lauf weg! Das Buch ist …«
    Er rannte auf sie zu, sah, wie ihr Lächeln sich verflüchtigte, nahm
ihren verwirrten Gesichtsausdruck wahr.
    In dem Moment explodierte das Buch.
    Der Anblick prägte sich für immer auf Orphans Netzhaut ein.
Lucy, die im Bruchteil einer Sekunde zu Asche wurde. Das brennende Luftschiff,
dessen schwarze Seide sich lodernd blähte. Die zischende, sich in der Hitze
verformende Metallsonde. Ein Schwall heißer Luft schleuderte Orphan gegen die
aufschreiende Menge. Er landete auf dem Rücken, geblendet, taub, nach Atem
ringend.
    Und voller Scham, während sich in seinem Körper langsam ein
unerträglicher Schmerz ausbreitete.
    Ich habe versagt, dachte er. Sie ist tot. Ich habe sie im Stich gelassen.
    Verbrannt. Schwarze Seide, die in Flammen aufgeht. Das Buch, das
explodiert, zusammen mit …
    Dann erreichte der kriechende Schmerz seinen Kopf. Er schrie auf und
verlor das Bewusstsein.

6
Der Bookman kömmt
    Ein Liebender ist oft ein Tor,
Ersinnt sich seine Not!
»O Jammer!«, stieß ich da hervor,
»Ob Lucy etwa tot?«
    William Wordsworth, »Lucy«
    Die Dunkelheit kam und ging. In klaren Momenten konnte er
in seiner Nähe murmelnde Stimmen hören, während seine benommenen Sinne
bisweilen vom Geruch gekochten Kohls belästigt wurden.
    Er hasste diese Augenblicke des Erwachens und trachtete jedes Mal
danach, möglichst schnell in die tröstliche Dunkelheit zurückzukehren, in der
es keine Träume gab und er nicht nachzudenken brauchte. Doch immer häufiger
stellte sich das Licht ein, begleitet von Stimmen, dem Geruch nach Kohl und
gestärktem Bettzeug, das er an der Wange spürte, bis er schließlich ganz
aufwachte und es kein Entrinnen mehr gab.
    Er lag mit geschlossenen Augen da und presste den Rücken gegen die
Matratze. Wenn er lange genug in dieser Lage blieb, würde es ihm vielleicht
gelingen, erneut in traumlosen Schlaf zu entkommen.
    Doch nein. Die Stimmen drangen auf ihn ein, ohne auf seine
Verzweiflung zu achten.
    Â»Er kommt zu sich«, sagte eine männliche Stimme, die sachlich und
energisch klang. Ein Arzt, vermutete Orphan.
    Eine weibliche Stimme, die sanfter wirkte, aber ebenso viel – wenn
nicht mehr – Autorität ausstrahlte, erwiderte: »Das wird auch Zeit.«
    Â»Ich werde nicht zulassen, dass Sie ihn verhören«, stellte die erste
Stimme aufgebracht fest. »Er braucht Ruhe.«
    Die antwortende weibliche Stimme klang, wie Orphan fand, müde, hatte
jedoch etwas Unerbittliches an sich. »Was er braucht und
was er bekommt , das sind zwei verschiedene Dinge, Doktor .« Sie seufzte; sie hatte einen leicht
vespuccianischen Akzent. »Hören Sie, sicher werden Sie begreifen, wie wichtig
diese Untersuchung ist. Ich muss Ihnen ja wohl nicht erst erklären, unter
welchem Druck ich stehe und dass man Ergebnisse von mir erwartet. Moriarty …«
    Â»Moriarty ist nicht der Leiter dieses Hospitals«, entgegnete der
Arzt, der sich jedoch so resigniert anhörte, als wäre der Kampf von vornherein
verloren. »Meiner Meinung nach war das Debakel mit der Marssonde unvermeidlich.
Die Vorstellung, in den Weltraum zu fliegen, ist einfach lächerlich.«
    Â»So töricht ist der Mensch, von seiner Eitelkeit geblendet …«,
erwiderte sein Gegenüber leise, was wie ein bekanntes Zitat anmutete.
    Orphan öffnete die Augen.
    Zwei Gesichter beugten sich über ihn, in einem merkwürdigen Winkel
zueinander, sodass es ihm zunächst vorkam, als gehörten sie zusammen und
bildeten so etwas wie den Doppelkopf des Janus. Das eine Gesicht gehörte zu
einem Mann in den Vierzigern mit braun gebrannter Haut, dichtem Schnurrbart und
freundlichen Augen, die im Moment jedoch nicht besonders zufrieden
dreinblickten. Das andere Gesicht erkannte Orphan mit Schrecken wieder: Es war
das von Inspektorin Adler, der er wider alle Wahrscheinlichkeit nie zu