Bookman - Das ewige Empire 1
hätte man ihn mit Medikamenten vollgepumpt, bis er ins Koma gefallen war.
Der fette Mann richtete sich im Sessel auf. »Bezahlen Sie sie und
schmeiÃen Sie sie raus«, wies er den Arzt an. »Sie müssen die Prozedur noch
einmal durchführen.« Dann drehte er den Kopf in Richtung Tür. Er schien Orphan
direkt in die Augen zu blicken.
Dieser erstarrte. Der fette Mann schüttelte kaum merklich den Kopf,
als wollte er sagen: »Das geht Sie nichts an.« AnschlieÃend hob er einen Stock,
der neben seinem Stuhl stand, und fuchtelte damit herum, worauf einer der
Männer in Weià auf die Tür zukam und Orphan die Aussicht versperrte. Er wich
erschrocken zurück. Doch die Tür blieb geschlossen, niemand verfolgte ihn.
Wusste der fette Mann, dass er da war? Er hatte ihn weggescheucht.
Oder? Kannte er ihn? Plötzlich spürte er die Kälte und erschauderte. Jetzt
hatte er das Gefühl, völlig wach zu sein. Gleich kommen die Leichenräuber
wieder heraus, dachte er. Er musste fliehen. Die Kälte war so stark, dass seine
Zähne klapperten. Wo er sich auch hinwandte â überall lauerte der Tod.
Er drehte sich um und rannte lautlos auf dem Steinboden davon.
Weg vom Krankenhaus mit seinen bizarren Geheimnissen, weg
von den makabren Träumen, die er dort gehabt hatte. Weg vom Krankenhaus,
während die Nacht hereinbrach, und weiter durch StraÃen mit Kopfsteinpflaster
in Richtung Südufer. Der Nebel um ihn herum verdichtete sich, wurde zu einer
undurchsichtigen Glocke, die die Sterne verdeckte und die Stadt auslöschte, als
hätte es sie nie gegeben. Trotz seines Mantels zitternd, eilte Orphan weiter.
Der Nebel dämpfte das Geräusch seiner einsamen Schritte.
Er kam an Laternen vorbei, die ein funzliges gelbes Licht von sich
gaben. Dass er seinen Weg fand, war eher eine Sache der Erinnerung als der
Sicht. Von der Themse wehte eisiger Wind heran und peitschte ihm ins Gesicht.
Orphan zog seinen Mantel fester um sich und bog vom Flussufer ab, bis er
schlieÃlich zur Waterloo Station gelangte, deren Riesenbau wie eine dunkle
Zitadelle aus dem Nebel aufragte. Das Bahnhofsgebäude kam ihm wie ein
lebendiges Wesen vor, ein Wesen mit groteskem, gigantischem Gesicht, das laut
ein- und ausatmete und in gleichmäÃigem Rhythmus Züge ausspuckte und einsog. Er
ging am Bahnhof entlang. Die wenigen Passanten, denen er bei diesem schlechten
Wetter begegnete, eilten an ihm vorbei, ohne ihn eines Blickes zu würdigen.
Orphan hatte plötzlich das Gefühl, unsichtbar zu sein, ein Gespenst, das durch
eine unwirkliche Welt wanderte.
Er machte an einem der groÃen Steinbögen halt, wo eine in graue
Decken gehüllte Gestalt zusammengekauert auf der Erde saÃ. Als sich Orphan nach
unten beugte, rührte sich die Gestalt. Ein struppiger Kopf tauchte auf, aus dem
zwei groÃe, milchige, blinde Augen zu Orphan hochstarrten. »Haben Sieân
bisschen Kleingeld?«, fragte der Bettler.
Orphan schlug das Herz bis zum Hals. Für den Bruchteil einer Sekunde
hatte er geglaubt, Gilgamesch sei zurückgekehrt. »Wie heiÃen Sie?«, fragte er,
während er in seine Tasche griff, um nach Geld zu suchen.
Er warf die wenigen Münzen, die er bei sich hatte, in die Schale des
Bettlers. Der Mann reckte den Kopf noch weiter nach oben; seine blinden Augen
schienen Orphans Gesicht zu studieren. Plötzlich wurde sein bleiches Gesicht
noch bleicher, und der Bettler rang nach Luft. Orphan packte den Mann besorgt
bei der Schulter. »Was fehlt Ihnen, mein Freund?«, fragte er.
Der andere zuckte zurück, als wäre ihm die Berührung von Orphans
Hand unerträglich. »Nicht so viel Lärm, Mylord!«, zischte er. »Sprecht leise,
lieber Prinz! Der König, Euer Vater, wünscht zu schlafen.«
War der Mann etwa ein verkrachter Shakespeare-Darsteller? »Ich heiÃe
Orphan«, sagte er leise.
Zu seiner Verblüffung fing der Bettler an zu lachen â ein
merkwürdiges Geräusch, heiser und schwach, wie eine nicht richtig
funktionierende Maschine. Dann sagte er: »Mein Prinz, die reine Tugend Eurer
Jahre ergründete noch nicht der Welt Betrug. Ihr unterscheidet nichts an einem
Mann als seinen äuÃern Schein.«
Er sprach, wie es Orphan schien, mit groÃem Nachdruck, als hätten
seine Worte eine Bedeutung, die weit über die des Stückes hinausging. »Tut mir
leid«, sagte Orphan, »aber ich verstehe nicht,
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