Books & Braun: Das Zeichen des Phönix (German Edition)
einfach hergekommen, um ihn zu besuchen? Sie kannte die Antwort – aus Furcht. Furcht vor dem, was sie nun sah.
Harrisons Augen waren zwar noch immer grünbraun, aber nun huschten sie ruhelos hin und her, von einer Ecke des Zimmers zur nächsten. Seinen Bart hatten sie einfach wild und wollig wachsen lassen – wahrscheinlich weil er unablässig in Bewegung war und man ihn unmöglich rasieren konnte. Er hatte seine langen, kräftigen Finger in den Mund gesteckt und blutig gekaut. Ohne nachzudenken, taumelte Eliza zu ihm hinüber und schlang die Arme um ihn. Höchst unprofessionell, doch es war ja niemand da, der es hätte kritisieren können. Es tut mir leid, Harry, sagte ihm ihre Umarmung, oder zumindest hoffte Eliza das. Es tut mir so leid, Harry.
Bei den Göttern, Harrison war dermaßen dünn, sie konnte jeden einzelnen Knochen spüren, und dabei war er doch vor acht Monaten noch der Inbegriff kraftstrotzender Männlichkeit gewesen. Er ließ ihre Umarmung nicht lange zu, nach nur einer Sekunde zuckte er zurück, und sein wilder Bart kratzte ihr über die Wange. Der Harrison, den sie gekannt hatte, war in allen Dingen überaus eigen gewesen, insbesondere, was sein Aussehen betraf. Stets trug er einen sorgfältig frisierten Schnurrbart und einen perfekt gestärkten Kragen. »Kleider machen Leute«, erwiderte er einmal auf ihre Witzeleien über seine ausgeprägte Eitelkeit, »zumindest kommt dir ein Hauch Eleganz mit einer ordentlichen Prise Lässigkeit im Einsatz sehr zugute, Lizzie.« Und wenn er ihr zuzwinkerte, wie auch bei dieser Erwiderung, dann wurde sie sich ihrer Weiblichkeit bewusst. Ihr wurde bewusst, wie sehr Harry seine gottgegebenen Vorzüge ausnutzte. »Die Menschen öffnen ihre Türen, ihre Herzen und ihren Geist eher für Prinzen als für Bettler. Versuch, immer daran zu denken, liebe Lizzie.«
Jener Harrison wäre über seinen gegenwärtigen Zustand entsetzt gewesen.
Dieser Harry jedoch lehnte sich in die Ecke zurück und begann, aufmerksam die Decke zu studieren. Dabei erzeugte er in seiner Kehle einen seltsamen Klagelaut wie das Miauen eines verirrten Kätzchens. Zuerst war es kaum zu hören, wurde aber lauter, als Harrison anfing, hin und her zu schaukeln. Eliza versuchte, ihn zu beruhigen, wie sie es mit einem kleinen Tier getan hätte. Wenn das seine beste Verfassung sein sollte, verspürte Eliza nicht den geringsten Wunsch mitzuerleben, wie seine schlimmste war.
»Harry?«, flüsterte sie, während sie seine Hand streichelte. »Ich bin es, Lizzie.« Sie hatte die verschiedenen Variationen ihres Namens noch nie leiden können, nur wenn er sie so nannte, schien der Spitzname seinen Stachel zu verlieren. »Herrje, Harry, erinnerst du dich denn nicht an mich?«
Als Eliza ins Stocken geriet, runzelte er die Stirn. »Lizzie … Lizzie?« Er sah aus, als kostete es ihn die größte Mühe, sich an verstreute Einzelheiten zu erinnern.
Verzweifelt drückte sie ihm einen Kuss auf den Handrücken, was sie nie gewagt hatte. Seine Haut war rau und vernarbt, aber noch immer seine.
Harrison berührte ihr Haar, zaghaft und sanft. »Lizzie. Ich habe mal eine Lizzie gekannt. Solch ein hübsches Mädchen. Wissen Sie, in Paris hätte ich sie küssen können.«
Eliza schaute auf und lächelte.
»Ich hatte viele Gelegenheiten, sie zu küssen, die hübsche Lizzie«, erzählte er ihr im Tonfall eines Kindes, das einem Erwachsenen von seiner letzten Heldentat erzählt. »Nämlich in Uganda. Und in Casablanca. Oh ja, ich hatte viele, viele Gelegenheiten, aber Paris … ja, Paris. Und ich glaube, die hübsche Lizzie hätte mir auch erlaubt, sie zu küssen.«
»Hätte sie?« Eine unsichtbare Hand drückte ihr die Kehle zu. Sie schluckte ihre Tränen hinunter, und das Reden half ihr irgendwie, die emotionale Flut zurückzuhalten. »Und warum hast du es denn nicht getan, du Schlaumeier?«
Er schüttelte heftig den Kopf. Das Kind fühlte sich ertappt. »Wäre nicht richtig gewesen. Wäre nicht richtig gewesen. Sie war etwas Besonderes, die hübsche Lizzie. Sie war hübsch, aber besonders. Nicht wie die anderen. Sie war, sehr, sehr, sehr besonders.«
Eliza holte tief Luft und hoffte, dass ihr Lächeln ihm ein wenig Frieden schenkte. »Ja, Harry, ich denke, Lizzie hätte dir erlaubt, sie zu küssen.«
»Aber ich habe es nicht getan, und die Chance war vertan«, flüsterte Harrison mit einem kleinen Seufzer. Es war, wie er sagte: Der Moment war für sie beide auf ewig verloren.
Aber vielleicht bestand ja doch
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