Bordsteinkönig: Meine wilde Jugend auf St. Pauli (German Edition)
nie hatte. Seine Eltern waren Gastarbeiter der ersten Generation. Er selbst war erst vor acht Jahren aus der Türkei nach Deutschland gekommen. Ümet fühlte sich als Außenseiter, weil er aus der Türkei stammte und seine Eltern von den Deutschen nicht voll akzeptiert wurden. Aber es war nicht so, dass er diese Andersartigkeit kultivierte – durch gebrochenes Deutsch oder die Ablehnung der deutschen Gesellschaft. Ganz im Gegenteil. Er sprach ein einwandfreies Deutsch ohne Akzent, und er war sehr interessiert und las viel. Dennoch rechnete Ümet sich keine großen Chancen aus, wenn er versuchen würde, einen »normalen« Weg einzuschlagen. Das verband uns: das Außenseitertum und der Wille, sich seinen Weg zu erkämpfen. Als Junge vom Kiez stand ich außerhalb der bürgerlichen Gesellschaft. Ich stand außerhalb meiner Familie, die das, was ich wollte – das wurde mir immer mehr bewusst –, nicht verstand oder nicht verstehen wollte. Ümet und ich, wir hatten unseren Platz in dieser Welt noch nicht gefunden. Wir waren auf der Suche nach einer Identität, die zu uns passte. Aber schon bald sollten wir sie uns selbst erschaffen.
So spazierten wir stundenlang und schnackten. Ich hatte einen Seelenverwandten gefunden. »Du bist ein Guter«, sagte Ümet beim Abschied. »Ich melde mich.« Es war schon spät, ich musste nach Hause. Euphorisiert von dem Treffen, lief ich durch St. Pauli, Ideen strömten durch meinen Kopf, die Energie pulsierte. Ich fühlte mich wie neu geboren.
Am nächsten Tag wartete ich vor dem Haus auf Ümet. Ich wartete und wartete und starrte Löcher in den Hamburger Himmel. Aber Ümet kam nicht. Auch die nächsten Tage saß ich vor dem Haus, aber Ümet tauchte nicht auf. Er hatte nicht den Eindruck gemacht, als würde er sein Wort nicht halten. Im Gegenteil: Er schien mir ein Mann des Wortes zu sein. Doch Ümet blieb verschwunden, als hätte es ihn nie gegeben. Nach einer Woche verschwendete ich keinen Gedanken mehr an ihn. »Den«, dachte ich, »seh ich eh nicht wieder.« Etwa sechs Monate gingen ins Land, da klingelte es eines Tages an unserer Tür. Ich öffnete. Da stand er, tatsächlich: Ümet. Als hätte ihn der Himmel ein zweites Mal ausgespuckt. »Ümet!«, sagte ich überrascht. »Ey, Michel. Hast du Zeit?« – »Natürlich hab ich Zeit.« – »Dann komm mit. Ich will dir was zeigen. Es hat sich viel verändert.«
Ein Satz wie aus einem Western von Sergio Leone. Kurz, prägnant, trocken. Ümet war kein Mann der vielen Worte. Das wusste ich. Deswegen sparte ich mir die Frage, wohin es gehen sollte. Ich war mir sicher, dass es einen Grund gab, dass Ümet mich nach sechs Monaten direkt aufsuchte. Ich zog schnell meine Jacke über und machte die Tür hinter mir zu. Den ganzen Weg schwiegen wir, genau wie in einem Western. Das Ziel war ein Spielplatz, der sich ein paar Straßenzüge entfernt befand. Ein Spielplatz! Was sollte ich auf ’nem Spielplatz?
Aber zwischen Schaukel, Rutsche und Sandkasten tummelten sich etwa zwanzig Jungs, alle offensichtlich älter als ich und alle sehr sportlich gebaut. Einige kannte ich vom Sehen, die meisten aber waren mir unbekannt. Einer warf immer wieder mit einem Messer auf ein Holzhäuschen, die anderen quatschten miteinander und hatten eine sehr erwachsene Attitüde. »Michel!«, sagte Ümet. »Das ist meine Gang. Wir nennen uns die ›Breakers‹.« Die Jungs nickten zum Gruß. »Okay«, sagte ich. Was anderes fiel mir vor Aufregung nicht ein. Der Name der Gang gefiel mir sofort: BREAKERS. Das klang richtig geil! Alles Englische und Amerikanische stand ja damals bei uns hoch im Kurs. Von Gangs hatte ich schon gehört. Von großen Jungs, die in Horden durch die Straßen zogen, Kampfsport machten, Bomberjacken, lange Haare trugen, sich prügelten und die großartigsten Partys feierten, die man sich nur vorstellen konnte. Kleine Bruderschaften der Underdogs, die sich als Opposition zum bürgerlichen Mainstream verstanden, die aber auch gegen Punks, Skins oder andere jugendliche Subkulturen waren. Doch das war alles nur Gerede. Das war nicht meine Welt. Allerdings hatte ich in der Schule schon mal Jungs gesehen, die bei den »Streetboys«, einer anderen Gang, waren. Die Streetboys waren damals schon Kiezgespräch. Meine Eltern redeten über sie, die Leute in den Kneipen redeten über sie. Es war eine Jugendbande nach amerikanischem Vorbild, die für einen Generationenwechsel im Milieu sorgte. Die Streetboys hatten schon Anfang der Achtziger Nutten
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