Bordsteinkönig: Meine wilde Jugend auf St. Pauli (German Edition)
für sich laufen. Ein paar Jahre später machten sie traurige Schlagzeilen, weil einer der Anführer ein ehemaliges Gangmitglied mit einem Baseballschläger erschlug.
Anfang der Achtziger begann sich das Milieu langsam zu verändern, und die Gangs waren Teil dieser Veränderung. Sie hießen »Jacksons«, »Champs«, »Bombers«, »Panthers« oder »Destroyers«. Sie stießen in die Freiräume, die entstanden, wenn Luden ihren Job aufgrund des Alters oder des Drucks aufgaben. Bis Mitte der Achtziger wurden Gangs zu einem Phänomen im Kiez. Aber nicht nur die Gangs eroberten sich schrittweise ihre Pfründe, sondern auch die Albaner und Russen oder die Hells Angels. Vorher kannte jeder jeden auf St. Pauli. Konflikte wurden untereinander geregelt. Extreme Gewalt wurde dabei vermieden. Man war alles andere als zimperlich im Umgang miteinander, aber es gab klare Regeln, an die sich jeder hielt. Und auf das Wort eines Mannes konnte man sich auf St Pauli verlassen.
Doch als die Waffen und die Drogen kamen, änderte sich alles. In den Siebzigern galt noch das Faustrecht. Wilfried »Frieda« Schulz kontrollierte Gewalt und Geschäfte. Er war seit Ende der Fünfziger vom Hafenarbeiter zum Millionär aufgestiegen und hatte dabei auch solche miesen Schläger wie Hans-Jörg »Schweinehans« Chlastak verdrängt. In meinem Lieblingsrestaurant, dem Cuneo (der erste »Italiener« Hamburgs, vielleicht sogar ganz Deutschlands – er wurde am 5. Mai 1905 eröffnet) in der Nähe der Davidwache, zierte das Monogramm des »Paten von St. Pauli« die Servietten. Kam es zu Ärger unter St. Paulianern, berief Schulz ein Gericht ein. Schulz kontrollierte den Kiez fast zwanzig Jahre. Und so war er auch der Vorsitzende dieses Gerichts, das sich aus seinen engsten Vertrauten und Freunden zusammensetzte. Wer für schuldig erklärt wurde, musste St. Pauli verlassen. Schulz’ Wort war Gesetz. Die Behörden haben immer wieder versucht, ihn als einen der Drahtzieher der Hamburger Halbwelt zu überführen. Er galt als jemand, dem »vieles zuzutrauen, aber nichts nachzuweisen« war, wie die FAZ über ihn schrieb. Letztlich gelang es nur, ihm Steuerhinterziehung sowie die Fälschung eines Bootsführerscheines zur Last zu legen. Aber Anfang der Achtziger hatte er sich bereits zurückgezogen.
Damals war auch die GMBH groß im Geschäft. Die vier Manager der GMBH waren Gerd, Mischa, Beatle und Harry. Sie kontrollierten gemeinsam um die einhundertzwanzig Zuhälter und Hunderte von Prostituierten. Bis die Nutella-Bande ihnen das Geschäft streitig machte. Die Nutella-Jungs waren jünger, mutiger, draufgängerischer. Sie wurden anfangs als Milchbubis verlacht, die sich morgens Nuss-Nougat-Creme auf das Brot schmieren, daher der Name. Doch sie machten den alten Platzhirschen das Leben schwer. Aber nicht die Nutellas oder die GMBH waren es, die den alles verändernden Tabu-Bruch begingen. Es war noch einer der Alten: der »Wiener-Peter«. Der Wiener-Peter, eigentlich Josef Nuss, war ein österreichischer Ex-Kellner, der sich auf St. Pauli einen Namen als brutaler, rücksichtsloser Bordellchef gemacht hatte. Angeblich war er es, der hinter dem ersten Auftragsmord im Milieu steckte. Fritz »Chinesen-Fritz« Schröder wurde 1981 in der »Ritze«, auf einem Barhocker sitzend, in den Kopf geschossen. Aufgeklärt wurde die Tat nie. Aber Wiener-Peter ist heute vor allem als der Auftragsgeber von Werner »Mucki« Pinzner bekannt, der seit 1984 Angst und Schrecken unter den harten Jungs auf’m Kiez verbreitete. Bis zu seinem Ende am 29. Juli 1986, als Pinzner im damaligen Hamburger Polizeipräsidium am Berliner Tor zunächst den Staatsanwalt, danach seine Frau und sich selbst erschoss, soll er bis zu dreizehn Morde begangen haben. Die Zeit der großen Worte und der Kämpfe Mann gegen Mann war vorbei. Es regierte der, der die besseren Waffen hatte. Die »Bleivergiftung« wurde neben AIDS zur tödlichsten Krankheit auf St. Pauli.
Die Gangs waren eine der vielen Erscheinungen, die der Umbruch im Kiez mit sich brachte. Ich hatte, wie gesagt, von den Streetboys und anderen Gangs gehört. Diese auf dem Spielplatz etwas gelangweilt abhängende Bande aber sagte mir gar nichts. Ich war etwas eingeschüchtert. Denn mit zwölf war ich für diesen Haufen Typen, die alle ein paar Jahre älter waren und sich schon sehr erwachsen fühlten, noch ein Bubi. Aber dadurch, dass Ümet, der Gangchef, mich eingeführt hatte, wurde ich sofort akzeptiert. Es bot mir auch den
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