Bordsteinkönig: Meine wilde Jugend auf St. Pauli (German Edition)
und den Mob, der wutentbrannt und entfesselt auf Polizisten losging. Auf einer Demo wurde ein Polizist mal von einer Horde gejagt, er fiel in einen Kanal und wäre fast ertrunken. In der Kommune wurde darüber dann bis tief in die Morgenstunden diskutiert: Wie weit darf Gewalt gehen? Nimmt man Opfer in Kauf, wenn es um eine wichtige politische Sache geht? Einige waren gewillt, Tote in Kauf zu nehmen für ihren ideologischen Irrsinn.
Eine in der Kommune hatte nicht nur was mit Keith Richards gehabt. Sie hatte auch Kontakt zur RAF – die in den Achtzigern ja nur noch von den Hardcore-Linken unterstützt wurde – und zu den Revolutionären Zellen. Das war geheim, und immer wieder wurde ich darauf hingewiesen, dass solche Gespräche auf gar keinen Fall nach außen dringen durften. Häufig wurde diskutiert, ob man in den Untergrund gehen solle, um am bewaffneten Widerstand teilzunehmen. Die Kommune hatte Angst, dass sie von den Bullen und dem Verfassungsschutz überwacht wurde. Im Nachhinein betrachtet muss ich sagen: Der Gang in den Untergrund stand kurz bevor. Keine Frage: Wladimir und ich wären bereit gewesen (ich fand die Mädels in der Kommune sehr süß und wäre gern mit denen im Untergrund verschwunden). Aber uns fragte ja niemand.
9 Halbe Stärke, großes Maul
W ladimir und ich wurden so gute Freunde, dass die Kommune zeitweise zu meinem Zuhause wurde, als das Leben mit meiner Mutter und Kalle unerträglich wurde und alles zu explodieren drohte. Wenn ich abends nach dem Training in die Wohnung kam, war ich erschöpft, fühlte mich aber frei. Es roch nach Essen, das ich verabscheute. Mein Zimmer war gleich vorn rechts. Wenn ich etwas aus dem Kühlschrank holen wollte, das mir wirklich schmeckte, musste ich mich an Kalle und meiner Mutter vorbeischleichen, die im Wohnzimmer saßen und in den Fernseher starrten. Das klappte nie. Jedes Mal spürte ich sofort ihre Blicke wie spitze Messer in meinem Nacken. Wenn Kalle wütend wurde, dann war er mit ganzer Leidenschaft dabei. Die Ausbrüche waren nach seinem Unfall noch häufiger und intensiver geworden. Außerdem war Kalle nun auch noch politisch geworden. Allerdings ging es bei ihm nach rechts. Er trug Hakenkreuz-Abzeichen im Portemonnaie herum und las rechte Zeitungen. Aus seiner diffusen Sympathie für die RAF, die er ursprünglich einmal gehabt hatte, wurde eine für die NPD. Na ja, auch drei Buchstaben.
Meine Freunde mochte er nicht. Die meisten waren keine Deutschen. Wladimir war in seinen Augen Kommunist. Für Kalle war ich der Feind im eigenen Haus. Manchmal stand ich minutenlang vor dem Wohnzimmer und beobachtete die beiden. Meine Mutter kraulte Kalle die Haare. So läuft’s also im Leben, dachte ich. Abends liegt man vor der Glotze und erzählt sich, wie hart der Tag war. Toll. Wo liegt der Sinn im Leben? Im Malochen? Dann Kinder großziehen? Die dann das Gleiche machen? Es muss doch noch was anderes geben! Etwas, das einen Sinn ergibt. Ist diese Sinnlosigkeit wirklich der Sinn des Lebens? Sie kraulte ihn weiter. Ich starrte, sie kraulte. Ich starrte, wie sie starrten. Wenn ich mal verheiratet bin, dachte ich nur, lieber Gott! Dann lass mich nicht so werden wie die beiden. Ich musste weg. Ich brauchte Luft.
Ich nutzte jede Gelegenheit, um auf die Straße zu kommen. Nachmittags standen nicht die Hausaufgaben auf dem Programm, sondern die Breakers. Kleine Streitereien waren an der Tagesordnung, auch untereinander. Heute war der Tag, an dem ich mich als richtiges Mitglied beweisen sollte.
Ich hatte geahnt, dass dieser Tag kommen würde. Ümet hatte mich zwar in die Gang geholt. Aber das allein reichte nicht. Meine Stellung darin musste ich mir selbst erkämpfen. Schließlich war ich einer der wenigen, die wirklich Kung-Fu und Karate konnten. Zumindest erzählte ich das den Jungs ständig.
Wir hingen auf unserem Spielplatz ab. Zwanzig, dreißig Breakers. »Upside Down« von Diana Ross krachte aus dem Ghettoblaster. Die Bomberjacken glänzten in der Sonne. Ümet kam auf mich zu. »Pass auf, Michel!«, begann er, und ich wusste, dass es nun ernst für mich werden würde. »Du machst Kung-Fu. Wir wollen sehen, was du drauf hast. Zeig uns, wie das aussieht.« Sofort sprang ich auf, zeigte ein paar Bewegungen, Tritte, Schläge. Ich stieß ein paar Schreie aus und kam mir vor wie Bruce Lee. Ümet beobachtete meine Kunststücke leicht desinteressiert. »Sieht ja ganz nett aus, Michel. Aber wir wollen dich in Aktion sehen. Wir wollen sehen, wie du einen
Weitere Kostenlose Bücher