Bordsteinkönig: Meine wilde Jugend auf St. Pauli (German Edition)
Schnursenkeln am Boden waren. »Ihr Wichser! Nazis seid ihr!«, schrie Cem.
All die Wut, die sich im Laufe der Jahre bei mir angestaut hatte, war kurz vor der Explosion, als mein Gegenüber dann doch Anstalten machte, sich zu wehren. Ich musste aufpassen, dass ich nicht die Kontrolle verlor.
Doch bevor ich weiter wie wild auf den Nazi einschlagen konnte, stoppte die Bahn. »Los, ihr Penner. Aussteigen. Endstation!«, brüllte ich. Cem jagte sie mit Tritten nach draußen. Von der Tür aus sahen wir ihnen hinterher; weg waren sie, hoppelten wie ängstliche Hasen über den Bahnsteig.
»Scheiß Nazis!«, rief ich.
»Geile Aktion!«, rief Cem.
Da war es wieder, das Adrenalin, das drohte, mich um den Verstand zu bringen.
An der nächsten Haltestelle stiegen wir aus. Wir wollten weiterkämpfen! Meine Brust war ganz warm, fast heiß. Ich spürte das Feuer wachsen.
»Wo sind wir?«, fragte Cem.
»Keine Ahnung«, sagte ich. »Lass uns mal schauen.«
Wir spazierten los, fanden ein Einkaufspassage, wo uns die Leute anstarrten, als wären wir Außerirdische. Kein Wunder. So, wie wir durch die Gegend stolzierten. Mit Gockelgang und breiter Brust, in engen Jeans, Boxerstiefeln, Bomberjacken, mit langen Haaren und Oberlippenbart. Wer heute so herumläuft, der ist eine ausgemachte Lachnummer. Aber damals flößte das den Leuten Respekt ein, wenn nicht sogar Furcht! Trotz Oberlippenbart! Wie sich die Zeiten doch ändern können. Ich war erst vierzehn, aber ich kam mir vor wie ein ganz großer, unbesiegbarer Kämpfer.
Wir streiften durch die Gänge eines kleinen Klamottenladens. Die Verkäuferin zeigte einer Kundin gerade ein Kleid – und hatte bei der letzten vergessen, die Kasse wieder zu schließen. Cem sah sich kurz um, dann griff er zu und packte die Scheine ein. In aller Seelenruhe verließen wir den Laden. Auch wenn ich froh über die Beute war, Klauen war nicht mehr mein Ding, seitdem ich bei meinem letzten Fensterjob erwischt worden war. Aber mitgehangen, mitgefangen. Und die Kohle war willkommen. Zweihundertfünfzig Mark für jeden.
Auch wenn die Gegend anderen gehörte, stolzierten wir selbstsicher umher. Aber ich wusste, dass ich wachsam sein musste. Es war eine brave, biedere Gegend, alt-deutsch. Nur sahen wir ganz sicher nicht wie brave Deutsche aus. »Ey, lass uns zur Schilleroper«, raunte ich Cem zu. »Da treffen wir die anderen.« Die Schilleroper, zwischen dem Schanzenviertel und St. Pauli, war unser Treffpunkt. Doch an der nächsten Ecke standen sie dann: acht bis zehn Skinheads. »Lass uns kehrtmachen«, meinte Cem. Also stiefelten wir zurück zur Einkaufspassage. Aber die Nazis hatten schon die Verfolgung aufgenommen. Das wird ein Krankenhaustag, dachte ich. Ich war nicht sonderlich wild darauf zu erfahren, wie es ausgeht, wenn wir zehn wütenden Skins gegenüberstehen. Sie suchten ganz sicher nicht das Gespräch mit uns. Seelenruhig verfolgten sie uns. Sie wussten, dass wir nicht entkommen konnten. Angst stieg in mir auf. Mein Mund wurde trocken. St. Pauli kam mir in den Sinn. Wie schön doch das Leben dort sein konnte. Wir gingen in ein Treppenhaus, suchten nach Notausgängen. Die Skins hinter uns. Ich hörte ihre Schritte. Blöde Idee! Das Treppenhaus bot uns nicht einmal den Schutz der Öffentlichkeit. Ich schaute die Treppe hinunter und sah ihre Hände, die schnell am Geländer entlang griffen. Plötzlich fühlte ich mich sehr einsam. Ich hatte keine Lust, gestiefelt zu werden, und hier, in einem leeren Treppenhaus, war sogar viel Schlimmeres denkbar.
Wir kamen in einen langen, leeren Gang. Ich begann zu beten: »Lieber Gott, wenn ich hier lebendig rauskomme, werde ich immer den Schwächeren helfen.« Wir rannten den Gang entlang, dann links durch eine Tür in einen Lagerraum. »Was machen?«, flüsterte Cem mir zu. »Die Kohle. Wir müssen die Kohle verstecken.« Hektisch stopften wir die Scheine in unsere Strümpfe und Unterhosen. Dann warteten wir, eine halb Stunde oder länger. Langsam öffnete ich die Tür, nur einen Spalt. Es war nichts zu sehen, nichts zu hören. »Los!« Wir rannten zurück in die Passage.
Wie geprügelte Hunde schlichen wir nun zum Ausgang. Als ich den Ausgang sah, überkam mich ein Glücksgefühl. Ich wollte mich am liebsten bei allen Leuten dafür bedanken, das ich noch lebte. Doch dann sah ich sie. Vier Skins in einer Kneipe gleich rechts neben dem Ausgang. Sie hatten uns auch gesehen. »Los, lauf!« Ich rannte, so schnell ich konnte. Cem hinter mir her. Wie die
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