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Bordsteinkönig: Meine wilde Jugend auf St. Pauli (German Edition)

Bordsteinkönig: Meine wilde Jugend auf St. Pauli (German Edition)

Titel: Bordsteinkönig: Meine wilde Jugend auf St. Pauli (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulf Meyer zu Kueingdorf , Michel Ruge
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Karnickel schossen wir durch den Ausgang. Die Skins waren direkt hinter uns, ihre wütenden Schreie hatten uns schon längst erreicht. »Wir kriegen euch, ihr Wichser!« Wir liefen buchstäblich um unser Leben und rempelten uns durch die Passanten, die Skins immer noch dicht hinter uns. Meine Beine brannten. Mein Herz ratterte. Ich lief und lief. Cem hielt mit. Das Gebrüll der Skins trieb mich an. Dann plötzlich schrie ich Cem zu: »Warum laufen wir weg? Es sind nur vier, die schaffen wir!« – »Lauf, Alter«, schrie Cem.
    Wir liefen weiter. Das Gebrüll hinter uns wurde leiser und verstummte irgendwann ganz. Inzwischen wusste ich auch wieder, wo wir waren; irgendwo am S-Bahnhof Landwehr. Keine Nazis mehr.
    »Wir haben sie abgehängt, Cem!« Vor Erleichterung lachten wir auf. »Wieso sind wir weglaufen?«
    Cem hustete nur.
    Ohne Umwege machten wir uns auf zu unserem Spielplatz in Eimsbüttel, wo die anderen Breakers schon warteten. Wir erzählten von unserem Tag, den Skins in der S-Bahn, aber auch von der Jagd der Horde auf uns. Nur den Griff in die Kasse verschwiegen wir. So sehr die Aktion in der S-Bahn unseren Stolz aufgepumpt hatte, die Flucht hatte uns doch auch wieder runtergeholt.
    »Das können wir nicht auf uns sitzenlassen«, sagte Ümet.
    »Die bringen wir um«, rief einer aus den hinteren Reihen und zog eine Pistole aus der Hose. Endlich Action! Das Feuer in mir war wieder voll entfacht, und ich wollte sofort zurück, um mich zu beweisen!
    Die Skins hatten uns gedemütigt. Es gibt nichts Schlimmeres, als wegzulaufen. Wir hatten also genügend Gründe, den Kampf mit den Nazis zu suchen. Allerdings kannte sich niemand in deren Gegend aus. Ein paar von uns machten sich auf und sorgten für Verstärkung. Das Wort »Nazis« konnte wahre Wunder bewirken. Die meisten im Kiez hatten ihre Wurzeln woanders, ihre Familien waren aus der Türkei, dem Libanon oder vom Balkan hierhergekommen auf der Suche nach Arbeit, einer besseren Zukunft oder auf der Flucht. Es war für alle eine Frage der Ehre, dass man sich zusammentat und gegen die Nazis zog, egal, ob man ein Breaker war oder einer anderen Gang angehört. Für die Zeit des Kampfes gegen die Skins waren alle Differenzen untereinander vergessen.
    An der Jugenddisko »Schilleroper« trafen wir alle zusammen. Es war klar: Die Nazis würden ordentlich was aufs Maul kriegen. Sechzig Jungs waren wir. Die Stimmung war gigantisch. Wir brodelten und heizten uns gegenseitig weiter an. Wieder zogen wir durch die Straßen von St. Pauli. Auf den Bürgersteigen standen die Leute und starrten uns mit offenem Mund an. In der U-Bahn besetzten wir zwei komplette Waggons. Niemand hätte jetzt den Mut aufgebracht, sich gegen uns zu stellen; kein Streifenpolizist, absolut niemand. Wir waren eine Macht. Die Stadt gehörte uns! Einige taggten sich in die Scheiben der Bahn, andere hinterließen ihr Zeichen auf Sitzen und Wänden. Die normalen Fahrgäste kümmerten uns nicht. Wir hatten keine Angst, keinen Respekt und machten, was wir wollten. Der Zug hielt, die Türen gingen auf, und sechzig Jungs strömten hinaus. Was für ein majestätisches Gefühl! Wir waren gekommen, um uns zu schlagen, um uns zu beweisen und den Respekt einzufordern, der uns zustand. Wir waren gekommen, um den Nazis in ihrem eigenen Revier entgegenzutreten.
    Doch wo waren die verdammten Skins? In der Kneipe saßen nur ein paar Typen, darunter sogar zwei Rocker mit Lederkutte. Alle schwiegen und beobachteten uns. Das war auch besser so. Man konnte es spüren, wie aufgeladen wir waren. Das Feuer in uns fing an, die Umgebung zu versengen. Wir schauten böse, rempelten alle, die uns im Weg waren, weg. Alle hatten Angst vor uns. Erst als wir wieder auf die Straße zogen, trauten sich ein paar Typen aus der Kneipe, uns hinterherzurufen: »Verpisst euch, ihr Kanaken! Verpisst euch!« Doch es klang mehr wie eine Bitte. Noch bevor wir sie uns vornehmen konnten, waren sie in die Kneipe geflüchtet und hatten die Türen verriegelt. Stühle flogen im hohen Bogen gegen Fenster. Ein paar von uns sprangen gegen die Türen – so wie Bruce Lee auf seine Gegner zusprang. »Kommt raus, ihr feigen Ratten!« Wie hatte der ahnungslose Redakteur des Spiegel doch so schön gesagt: Wir nahmen die Stadt auseinander!
    Nazis fanden wir an diesem Tag keine mehr. Sie schienen sich in ihren Löchern versteckt zu haben. Allmählich verflog unsere Kraft, Langeweile macht sich stattdessen breit. Ümet beriet sich mit den anderen Bossen.

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