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Bordsteinkönig: Meine wilde Jugend auf St. Pauli (German Edition)

Bordsteinkönig: Meine wilde Jugend auf St. Pauli (German Edition)

Titel: Bordsteinkönig: Meine wilde Jugend auf St. Pauli (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulf Meyer zu Kueingdorf , Michel Ruge
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Casino gespült. Fritz trug einen Anzug, ich hatte meine Sonntagshose und ein Jackett an. Wir spazierten zwischen den Spieltischen und Automaten umher. Schummriges Licht, laute Stimmen, seichte Musik. Ich erkannte Schauspieler, Politiker, Luden und andere Größen der Halbwelt. Heute war ihr Abend, und sie stahlen den Schauspielern mit ihren braven Mädchen die Show. Die seriösen Geschäftsmänner wirkten neben den Luden, die wie immer gute Laune und Charme versprühten, wie Finanzbeamte. Die Luden trugen exklusive Maßanzüge und brachten mit all ihrem Klunker den Laden zum Strahlen. Hier bestimmten sie die Ordnung der Dinge.
    Die Schauspieler versuchten die Halbweltler zu imitieren. Sie wollten ebenfalls lässig rüberkommen, aber ihre Angst war zu spüren. Sie hatten Angst vor dieser Welt, die so reizvoll glitzerte, aber im nächsten Augenblick wütend explodieren und in Flammen aufgehen konnte. In der Welt von St. Pauli galt das Gesetz: ein Mann, ein Wort. Die Schauspieler aber lebten das Gegenteil. Sie waren es gewohnt, in Rollen zu schlüpfen. Doch sie waren nicht bereit, ihr Leben mit letzter Konsequenz zu leben.
    Die Frauen der Luden trugen Pelze und Sonnenbrillen. Ihre schönen Körper steckten in engen Hosen und stolzierten auf hohen, spitzen Pumps. An ihren Beinen konnte ich mich nicht sattsehen. Sie waren so fein und geschmeidig. Pure Eleganz. Was waren schon Roulette, Black Jack oder irgendein einarmiger Bandit dagegen? Da stand ich, nippte an einem Orangensaft und ließ meinen Blick gierig umherschweifen.
    Der neue Chef des Casinos – und der ehemalige Chef der Davidwache – begrüßte seine Gäste. Jeder hatte ein Geschenk mitgebracht. Man wusste, was sich gehört. Der neue Boss nahm Blumensträuße, Uhren, Schmuck und dicke Bündel Geld entgegen. Offensichtlich wurde die jahrelange Zusammenarbeit honoriert. Der Gastgeber lächelte, nickte, schüttelte Hände. Der ein oder andere Lude krempelte die Ärmel seines Anzugs hoch. Es war heiß und das viele Gold an den Handgelenken wollte gezeigt werden. Kräftige Handgelenke, umschlungen von goldenen Rolex und schweren Ketten. Trotz des gedämpften Lichts im Casino gehörten Sonnenbrillen zum guten Ton.
    Fritz und ich standen mit seinem Vater an einem Tisch. Er unterhielt sich mit ein paar Leuten, darunter zwei Hells Angels und zwei aus dem »Palais d’Amour«, einem Großbordell in der Herbertstraße, in dem Anfang der Siebziger auch die junge Domenica als Prostituierte anfing zu arbeiten, nachdem ihr Mann sich vor ihren Augen erschossen hatte. Alle quatschten und lachten. Plötzlich war mir dieses Lachen zuwider. Wut kam in mir auf. Der Gestank der Zigaretten und des Parfums stieg mir in die Nase. Mir wurde übel. Ich sah, wie die Luden, die Frauen, die Schauspieler und die Politiker selbstgefällig und verlogen lächelten. Für kurze Zeit hatte ich mich wieder einfangen lassen von dieser Welt, hatte vergessen, was sie mir angetan hatte, als sie Claudia zerstört hatte. Tränen stiegen mir in die Augen.
    »Aller! Alles klar?«, rief Fritz.
    Ich sah ihn an, machte kehrt, zwängte mich durch alle hindurch und lief hinaus auf die Reeperbahn. Ich lief und lief, die frische Luft brachte mir neue Kraft. Meine Augen waren rot, aber ich weinte nicht. Nein, ich weinte nicht! Niemals!

23 Endlich ein Mann
    M ir ging es nicht gut. In den vergangenen Tagen hatte ich mein Leben der letzten Jahre Revue passieren lassen – und nun nahte auch noch die Zukunft. War man erwachsen, wenn man an die Zukunft dachte und nicht mehr in der Gegenwart lebte? Ich dachte immer wieder an die Worte Mehmets: Mach etwas aus deinem Leben. Ich würde etwas aus meinem Leben machen! Erst einmal versuchte ich, die Zulassung fürs Gymnasium zu bekommen. Zusammen mit Wladimir, der sich ebenfalls einiges vorgenommen hatte und nun auch ein guter Schüler sein wollte. Auch Wladimir hatte sich verändert – wie wir alle. In der Kommune war ihm ein Heizkörper auf den Fuß gefallen und hatte das gute Stück in seine Einzelteile zerlegt. Sechs Wochen musste er zu Hause bleiben und durfte sich kaum bewegen, damit der Fuß zusammenwachsen konnte. Diese sechs Wochen hatten Wladimir stark zugesetzt. Er war nicht mehr lustig, er erzählte keine Storys mehr, der freche Glanz war aus seinen Augen gewichen. Er war nun sehr in sich gekehrt und wirkte manchmal fast schon apathisch. Die antiautoritäre Erziehung und das Leben in der linken Kommune hatten Spuren hinterlassen – andere Spuren, als es

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