Bordsteinkönig: Meine wilde Jugend auf St. Pauli (German Edition)
dran war, den Boden unter den Füßen zu verlieren, ging ich trainieren. Das Training war der Anker in meinem Leben. Beim Sport war ich jemand. Dort konnte ich zeigen, was ich drauf hatte. Ich trainierte hart und fühlte mich auf einmal ganz entspannt.
»Keine Scheiße mehr machen, Michel!«, sagte ich mir. »Keine Scheiße mehr! Nichts mehr klauen, niemanden mehr verletzen.«
Beim Training kam ein neues Ich zum Vorschein. Meine Gedanken beruhigten sich und wurden klar. Ich fühlte mich gereinigt. Der Dreck der Gosse kam hier nicht an mich ran, auch wenn einige Luden zusammen mit mir trainierten. Hier aber war ich auf Augenhöhe mit ihnen. Dieser Gedanke wurde mir im Laufe der Zeit aber immer unwichtiger. Denn ich wurde immer besser – sie aber nicht.
21 Schwester Heroin und der Tod
N ach den Sommerferien 1985 tauchte Claudia nicht mehr in der Schule auf. Ich wusste nur, dass sie mit einem Türken zusammen war, einer Kiezgröße. Über meine Kontakte auf dem Kiez versuchte ich sie ausfindig zu machen oder zumindest etwas in Erfahrung zu bringen. Aber niemand wusste etwas. Sie hatte kaum noch was mit den alten Leuten zu tun.
Schließlich gab es eine Nachricht. Doch was ich erfuhr, zerriss mir fast das Herz. Sie ging anschaffen! Ich wollte es nicht glauben, dachte, dass ich es so ungeschehen machen könnte, wie ein Kind, das sich die Augen zuhält und glaubt, so könnte man es auch nicht sehen. Meine Claudia? Die Frau, der ich verfallen war, als ich sie das erste Mal gesehen hatte mit ihren Sommersprossen und den strahlenden blauen Augen. Diese taffe, wunderbare Claudia, die mir den Schlitten weggenommen und mich sprachlos gemacht hatte. Aber sie war auch die Claudia, die mit einem Zuhälter zusammen war, und früher oder später schickten diese Typen jede Frau anschaffen. Es war immer dieselbe Masche: Erst machte man ihr den Hof, säuselte, dass sie die Einzige sei, alle anderen seien bedeutungslos. Schmuck, Pelze, Reisen vielleicht. Ein paar Blumen, dann waren die Frauen gefügig und machten, was man ihnen sagte. Die Luden waren nicht sonderlich einfallsreich, aber das mussten sie auch nicht, es funktionierte immer. Aber Claudia? Sie war nicht wie die anderen, sie war immer schon jemand Besonderes gewesen. Nicht nur für mich.
Ich streunte durch den Kiez auf der Suche nach den Plätzen, an denen Claudia und ich zusammen Zeit verbracht hatten. Orte, die ich mit ihr verband. Den Paulinenplatz, wo wir uns mit sechs das erste Mal begegnet waren. Die Königstraße, wo ich ihr heimlich beim Aerobic zugeschaut hatte. Das Top Ten, vor dem wir den Stress mit Yvonne und ihrer Horde Schläger gehabt hatten. Ich dachte an unsere Gespräche, an ihr Lachen, mit dem sie mich immer wieder aufs Neue verzauberte.
Susanne, eine gemeinsame Freundin, erzählte mir, sie habe sie vor nicht allzu langer Zeit noch gesehen. Ich war erleichtert – Claudia war also noch nicht ganz verschwunden. Doch als ich nachfragte und wissen wollte, ob sie mit ihr gesprochen hatte, wie es ihr ging, wo ich sie finden könnte, druckste sie rum und wich meinen Blicken aus. Ich wusste sofort, etwas musste passiert sein. Ich packte die Freundin an den Schulter: »Schau mich an, los, schau mich an! Was ist mit Claudia, sag, ich muss es wissen!« Susanne riss sich los, sah mich an und sagte dann so leise, dass ich es kaum verstehen konnte: »Sie nimmt Heroin. Sie ist schon ziemlich kaputt!«
Alles in mir schrie auf. Tausende von Gedanken, Erinnerungen und Gefühlen schossen mir durch den Kopf. Nur ein einziges Wort kam aus meinem Mund: »Warum?« Warum Claudia, die so stark und lebenstüchtig schien. Warum war sie auf so einen Typen reingefallen? Natürlich machte ich ihren Macker für alles verantwortlich. Für mich war klar, er hatte sie an die Nadel gebracht. Es war unvorstellbar, dass Claudia freiwillig zum Heroin gegriffen hatte. Ich wusste nicht mehr ein noch aus und zog mich von allem zurück. Ich hatte keine Lust auf die Champs, keine Lust auf Fritz, auf nichts Lust. Ich dachte nur an Claudia. Meine Claudia.
Vielleicht war ich wirklich vom ersten Moment an in sie verliebt gewesen, ganz sicher sogar. Wie sehr ich für sie empfand, das hatte ich mir bis zu diesem Moment nicht klargemacht oder eingestanden. Auch deshalb war ich nie in die Vollen gegangen, um sie zu erobern. Ich hatte wohl zu viel Respekt vor ihr. Wir hatten viel Zeit miteinander verbracht, wir hatten lange Gespräche über was auch immer uns gerade bewegte geführt, wir
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