Bordsteinkönig: Meine wilde Jugend auf St. Pauli (German Edition)
ich weniger klug und gebildet sei, keine Neugierde verspüren würde, die Welt und die Dinge zu entdecken. Ich war es satt: Immer noch musste ich gegen dieselben Klischees kämpfen, gegen die schon meine Eltern kämpfen mussten. Andere mochten es als gottgegeben hinnehmen, ich nicht! Ich wusste mehr über Musik als diese Blonde aus besserem Hause. Ich kannte mehr Filme. Das alles wusste ich nicht, weil es mir von übereifrigen Lehrern und Eltern eingebleut worden war, sondern weil ich neugierig war, weil es mich wirklich interessierte. Ich wusste: Es war der Versuch, mir ein Kompliment zu machen. Aber in dem, was sie sagte, zeigte sich der Graben zwischen uns in all seiner Tiefe.
»Ich bin St. Paulianer. Ich bin nicht so trocken wie die halben Heringe von der Party. Ich bin voller Leben und voller Kraft. Ich werde allen beweisen, dass ich was bewegen kann. Auch ohne dieses alberne distinguierte Gehabe. Ich bin auch kein Verbrecher, nur weil ich in einer Gang bin.«
Sie sah mich an, schwieg. Ich schwieg. Dann schliefen wir ein.
25 Ausflug an die Alster!
A m nächsten Morgen war der Ärger vergessen. Sie bezahlte die Rechnung. In Winterhude frühstückten wir.
»Wollen wir dir mal Klamotten kaufen?«, schlug sie vor. »Wieso Klamotten?«, fragte ich erstaunt. »Gefallen dir meine nicht?« – »Doch! Aber komm. Das wird ein Spaß. Ich bezahle.«
Wir gingen zu Mey & Edlich am Jungfernstieg und kauften ein schniekes Sakko, in dem ich nun wirklich wie ein Gentleman aussah. Ich erlebte eine neue Welt. Und ich genoss sie.
In ihrer Wohnung am Rondell an der Alster lebten wir in den Tag hinein. Wir schliefen lange, hatten Sex, wann, wie und wo wir wollten, abends gingen wir in vornehmen, teuren Restaurants essen.
Eines Abends waren wir in einem japanischen Restaurant, wo ich zufällig Fritz’ Eltern traf. Sie staunten nicht schlecht, als sie mich dort sahen, in Begleitung dieser schönen Lady. Michel, der Kiezjunge mit der Bomberjacke, hatte sich in einen gutgekleideten Gentleman verwandelt. Ich trug ein Tweedsakko, darüber einen dunkelblauen Wollmantel und einen feinen Pullover. Ein Outfit, das gut und gerne viertausend Mark gekostet hatte. Geschenke der Lady. Nur die englischen Schuhe und die Hose hatte ich selbst bezahlt. Dafür hatte ich mein komplettes Geld auf den Kopf gehauen. Aber das war mir egal. Ich dürstete nach Neuem. Mit meiner alten Welt hatte ich nur noch selten Kontakt. Fritz und auch Wladimir hatte ich schon länger nicht mehr gesehen. Die Leute in der roten WG hätten ohnehin kein Verständnis für meinen Lebenswandel gehabt.
An den Wochenenden fuhren wir oft zum Timmendorfer Strand. Dort stellte mich die Lady ihren Freunden vor. Man beäugte mich meist argwöhnisch. Ich wirkte exotisch, war jung, sportlich, kam aus St. Pauli. Den meisten hier war der Kiez nur aus den Nachrichten bekannt. Meine Auftreten verriet mich. Die Rollenverteilung in unserer Beziehung war klar. Ich, der mittellose Stecher. Sie, die reiche Lady, die sich einen jungen Liebhaber hielt.
Auch meine Freunde auf St. Pauli bekamen Wind von meinem neuen Leben, für das sie kein Verständnis hatten. Im Gegensatz zu ihnen hatte ich den Mut, nicht nur verstohlen über den Tellerrand zu schauen, sondern auch gleich drüberzuspringen.
Wir übernachteten in teuren Hotels, hörten Michel Fugain und Jacques Brel. Wir lebten ein Leben, wie ich es aus französischen Filmen kannte – als Bohemiens. Sosehr ich mich nach der großen weiten Welt sehnte, so sehr sehnte sie sich nach einem Sinn in ihrem Leben. Sie hatte alles. Sie konnte sich alles kaufen. Aber ihr war langweilig. Ihr war unglaublich langweilig. Deshalb klaute sie. Als ich es das erste Mal sah, konnte ich es nicht fassen. Der Verkäufer drehte sich um und ging ins Lager, um ein paar Schuhe zu holen, da steckte sie einen Schlüsselanhänger ein. Sie klaute bei jeder Gelegenheit, meistens Schund, mit dem sie nicht anfangen konnte. Ihr ging es um den Kick.
Wir waren an der Alster im »Bellevue« auf eine Party eingeladen. Die gesamte Hamburger Prominenz war versammelt: Modedesigner, Opernstars, Politiker, Models. Auf den Tischen lagen Steine: Kokssteine. Ich hatte noch nie so gierige Leute gesehen. Alle drängten sich um die Steine. Sie konnten es kaum erwarten, endlich an die Reihe zu kommen. Außer mir koksten alle.
In dieser Gesellschaft hielt ich es nicht aus, also ging ich auf den Balkon und betrachtete den Abendhimmel. Die Melancholie hatte mich fest im Griff. Ich
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