Boris Pasternak
seines Neffen nach Dupljanka. Jura glaubte, den Weg in Erinnerung zu
haben, und jedesmal, wenn sich die Fluren weiteten und nur noch von
Waldstreifen gesäumt waren, kam es ihm so vor, als erkenne er die Stelle, wo
die Straße nach rechts abbiegen und in der Kurve das zehn Werst breite Panorama
von Kologriwows Besitz mit dem in der Ferne blinkenden Fluß und der dahinter
verlaufenden Eisenbahnstrecke für einen Moment in Sicht kommen und gleich
wieder verschwinden mußte. Aber er täuschte sich jedesmal. Den Feldern folgten
weitere Felder, wieder und wieder von Wald eingefaßt. Dieser Wechsel der Räume
hob die Stimmung. Man bekam Lust, zu träumen und an die Zukunft zu denken.
Keines der Bücher, die
Wedenjapin späterhin berühmt machen sollten, war geschrieben. Aber seine Ideen
standen schon fest. Er wußte nicht, wie nahe seine Zeit war.
Schon bald würde unter den
Vertretern der damaligen Literatur, Universitätsprofessoren und
Revolutionsphilosophen dieser Wedenjapin seinen Platz haben, der über alle ihre
Themen nachsann und doch außer der Terminologie nichts mit ihnen gemein hatte.
Sie alle klammerten sich an irgendwelche Dogmen und gaben sich mit Worten und
äußerem Schein zufrieden, Vater Nikolai dagegen war ein Geistlicher, der durch
Tolstoianertum und Revolution hindurchgegangen war und ständig weiterging. Er
dürstete nach einer Idee, die beflügelt substantiell sein, einen ungeheuchelt
eigenständigen Weg in seiner Bewegung vorzeichnen, auf der Welt etwas zum
Besseren wenden und sogar für ein Kind und einen Ignoranten verständlich sein
sollte wie ein Blitzstrahl oder das Echo eines Donnerschlags. Er dürstete nach
Neuem.
Jura fühlte sich wohl bei dem
Onkel. Der ähnelte seiner Mutter. Wie sie war er ein freidenkender Mensch, der
an alles Ungewohnte vorurteilslos heranging. Wie sie hatte er ein aristokratisches
Empfinden für die Gleichheit aller Lebenden. Wie sie begriff er alles auf den
ersten Blick und wußte seine Gedanken so auszudrücken, wie sie ihm in den Kopf
kamen, solange sie noch lebendig und sinnerfüllt waren.
Jura freute sich, daß er mit
dem Onkel nach Dupljanka fahren durfte. Dort war es sehr schön, und die
malerische Stätte erinnerte ihn wiederum an seine Mutter, die die Natur geliebt
und ihn häufig zu Ausflügen mitgenommen hatte. Überdies war es ihm angenehm,
Nika Dudorow wiederzusehen, den Gymnasiasten, der bei Woskoboinikow lebte,
obwohl der ihn gewiß verachtete, weil er zwei Jahre älter war; bei der
Begrüßung zerrte er dem andern die Hand jedesmal nach unten und neigte den Kopf
so tief, daß ihm die Haare in die Stirn fielen und das halbe Gesicht
verdeckten.
»Der Lebensnerv des
Pauperismusproblems«, las Wedenjapin aus dem korrigierten Manuskript.
»Ich finde, wir schreiben
lieber - das Wesen«, sagte Woskoboinikow und trug die Korrektur ein.
Sie arbeiteten im Halbdunkel
der verglasten Terrasse. Das Auge unterschied unordentlich herumliegende
Gießkannen und Gartengeräte. Über die Lehne eines zerbrochenen Stuhls war ein
Regenmantel geworfen. In einem Winkel standen Wasserstiefel mit angetrocknetem
Schlamm und umgeknickten Schäften.
»Die Statistik der Geburten
und Todesfälle zeigt jedoch.. .«, diktierte Wedenjapin.
»Wir müssen einfügen: im
Berichtsjahr«, sagte Woskoboinikow und schrieb.
Auf der Terrasse zog es
leicht. Auf den Manuskriptseiten lagen Granitbrocken, damit sie nicht
wegflogen.
Als sie fertig waren, wollte
Wedenjapin gleich nach Hause.
»Es gibt ein Gewitter. Wir
müssen los.«
»Kommt nicht in Frage. Ich
lasse Sie nicht weg. Wir trinken jetzt Tee.«
»Ich muß am Abend unbedingt in
der Stadt sein.«
»Keine Ausrede. Ich will
nichts davon hören.«
Vom Garten wehte brandiger
Samowargeruch herein, der den Duft des Tabaks und des Heliotrops verdrängte.
Aus dem Haus wurden Sahne, Himbeeren und Quarkkuchen gebracht. Dann kam die
Nachricht, Pawel sei zum Fluß geritten, um zu baden und die Pferde zu
schwemmen. Wedenjapin mußte sich fügen.
»Kommen Sie mit zum Fluß, wir
setzen uns ein Weilchen auf die Bank, während der Teetisch gedeckt wird«,
schlug Woskoboinikow vor.
Mit dem Recht des Freundes
bewohnte er bei dem steinreichen Kologriwow zwei Zimmer im Verwalterhaus.
Dieses lag mit dem Vorgarten in dem düsteren, verwilderten Teil des Parks mit
der alten bogenförmigen Zufahrtallee. Die Allee war dicht mit Gras bewachsen.
Sie wurde nur noch befahren, wenn Erde und Bauschutt zu der Schlucht gebracht
werden mußten, die als
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