Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Boris Pasternak

Boris Pasternak

Titel: Boris Pasternak Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dr Shiwago
Vom Netzwerk:
ertragen!«
    Die Leiche des Selbstmörders
lag am Bahndamm im Gras. Ein Streifen geronnenen Blutes zog sich, ein scharfes
Mal, dunkel über Stirn und Augen, wie um das Gesicht mit einem Kreuz
durchzustreichen. Das Blut schien nicht sein Blut, nicht aus ihm
herausgeflossen, sondern von fremder Hand aufgetragen worden zu sein wie ein
Pflaster oder ein angetrockneter Schlammspritzer oder wie ein feuchtes
Birkenblatt.
    Das Häuflein Neugieriger und
Mitfühlender um die Leiche wechselte ständig. Neben dem Toten stand finster und
ausdruckslos sein Freund und Reisegefährte, der dicke und hochmütige Advokat,
ein rassiges Tier in schweißnassem Hemd. Er litt unter der Hitze und fächelte
sich mit seinem weichen Hut Luft zu. Auf alle Fragen zischte er unfreundlich,
ohne sich umzudrehen, die Schultern hochziehend: »Alkoholiker. Sieht man das
nicht? Typische Folge des Säuferwahnsinns.«
    Zu dem Leichnam trat zwei-
oder dreimal eine magere Frau im Wollkleid und mit einem Spitzenkopftuch. Sie
war Witwe und Mutter zweier Lokführer, die alte Tiwersina, die mit ihren beiden
Schwiegertöchtern in der dritten Klasse auf Freifahrtkarten reiste. Die
stillen, in ihre Tücher gewickelten Frauen folgten ihr schweigend wie zwei
Ordensschwestern ihrer Äbtissin. Die Gruppe flößte Achtung ein. Man machte ihr
Platz.
    Der Mann von Frau Tiwersina
war bei einem Eisenbahnunglück lebendigen Leibes verbrannt. Sie blieb ein paar
Schritte vor der Leiche stehen, so daß sie sie durch die Menge sehen konnte,
und schien seufzend Vergleiche anzustellen. Wie es jedem bei der Geburt geschrieben
steht, schien sie zu sagen. Bei dem einen ist es Gottes Wille, aber den hier
hat eben eine Laune gepackt, er hat vom üppigen Leben den Verstand verloren.
    Sämtliche Reisende des Zuges
hatten den Leichnam in Augenschein genommen und kehrten in ihren Waggon zurück,
da sie fürchteten, bestohlen zu werden.
    Sobald sie auf die Böschung
gesprungen waren, sich die Beine vertreten, Blumen gepflückt und ein paar
Schritte getan hatten, überkam sie das Gefühl, die Gegend hier wäre erst
infolge des Halts entstanden, und die sumpfige Wiese mit den Blüten, den
breiten Fluß, das schöne Haus und die Kirche auf dem gegenüberliegenden
Hochufer gäbe es gar nicht ohne das Unglück.
    Sogar die Sonne, die ebenfalls
ein hiesiges Zubehör zu sein schien, beleuchtete abendlich schüchtern die Szene
bei den Schienen, näherte sich ihr gleichsam ängstlich, wie eine Kuh, die aus
einer in der Nähe weidenden Herde zum Bahndamm kommt, um sich die Menschen
anzusehen.
    Mischa war erschüttert von dem
Geschehnis und weinte im ersten Moment vor Schreck und Mitleid. Während der
langen Reise hatte sich der Selbstmörder ein paarmal zu ihnen ins Abteil
gesetzt und sich stundenlang mit seinem Vater unterhalten. Er hatte gesagt, daß
er sich in der moralischen Lauterkeit und Klarheit ihrer Welt innerlich erhole,
und den Vater nach verschiedenen juristischen Feinheiten und Problemen auf dem
Gebiet von Wechseln und Schenkurkunden, Bankrotten und Fälschungen gefragt.
»Ach so?« hatte er Gordons Erklärungen bestaunt. »Sie verfügen über gnädigere
Verordnungen. Mein Anwalt hat andere Informationen. Er sieht diese Dinge viel
finsterer.«
    Jedesmal, wenn sich dieser
nervöse Mensch beruhigt hatte, kam sein Anwalt und Reisegefährte aus der ersten
Klasse und holte ihn ab, um im Speisewagen Champagner mit ihm zu trinken. Es
war der dicke, freche, glattrasierte und stutzerhafte Advokat, der jetzt bei
der Leiche stand und sich über nichts auf der Welt wunderte. Man war das Gefühl
nicht losgeworden, daß die ständige Erregung seines Klienten ihm in irgendeiner
Hinsicht gelegen kam.
    Der Vater hatte gesagt, der
Mann sei ein bekannter Geldsack, ein gutmütiger Liederjan und nicht mehr voll
zurechnungsfähig. Ohne sich von Mischas Anwesenheit beirren zu lassen, hatte
der Mann von seinem Sohn erzählt, der mit Mischa gleichaltrig sei, und von
seiner verstorbenen Frau, dann kam er auf seine zweite Familie zu sprechen, die
er gleichfalls verlassen habe. Da schien ihm ein neuer Einfall zu kommen, er
erbleichte vor Entsetzen, redete wirr und versank in Gedanken.
    Für Mischa bekundete er eine
unerklärliche, vermutlich gespielte und vielleicht nicht für ihn bestimmte
Zärtlichkeit. Alle Augenblicke schenkte er ihm etwas, ging zu diesem Zweck auf
den großen Bahnstationen in den Wartesaal erster Klasse, wo in Buchständen
Spiele und Abbildungen der örtlichen Sehenswürdigkeiten angeboten

Weitere Kostenlose Bücher