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Boris Pasternak

Boris Pasternak

Titel: Boris Pasternak Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dr Shiwago
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Aussicht bei Ihnen,
man kann sich nicht satt sehen! Sie leben immer hier und merken das gar nicht.«
    Es war schmerzhaft, auf den
Fluß zu blicken. Er spiegelte die Sonne, bog und streckte sich wie eine
Blechplatte. Plötzlich gingen Falten darüber hin. Eine schwere Fähre mit
Pferden, Fuhrwerken, Mushiks und ihren Frauen war von diesem Ufer abgestoßen.
    »Denken Sie nur, noch nicht
mal sechs«, sagte Woskoboinikow. »Schauen Sie, der Schnellzug aus Sysran. Er
kommt kurz nach fünf hier durch.«
    In der Ferne fuhr ein
blitzsauberer, blaugelber Zug von rechts nach links über die Ebene, durch die
Entfernung stark verkleinert. Die beiden Männer bemerkten auf einmal, daß er
hielt. Über der Lokomotive wölkte weißer Dampf aufwärts. Ein Weilchen später
drangen Alarmpfiffe zu ihnen.
    »Merkwürdig«, sagte
Woskoboinikow. »Da stimmt was nicht. Er hält sonst nicht in der sumpfigen
Gegend dort. Da ist was passiert. Kommen Sie, wir trinken Tee.«
     
    Nika war weder im Garten noch
im Hause. Jura konnte sich denken, daß er versteckt bleiben wollte, denn es war
ihm langweilig mit ihnen, und Jura war für ihn kein Gefährte. Sein Onkel und
Woskoboinikow hatten sich auf die Terrasse zurückgezogen, um zu arbeiten, und
es Jura überlassen, ziellos ums Haus zu schlendern. War das schön hier! Immer
wieder erklang der klare, aus drei Tönen bestehende Pfiff des Pirols,
dazwischen lagen Pausen, damit der feuchte, gleichsam einer Hirtenflöte
entlockte Laut die Umgebung gänzlich durchdrang. Der in der Luft stehende
Blumenduft wurde von der Hitze auf die Beete niedergedrückt. Wie das an Antibes
und Bordighera erinnerte! Jura drehte sich immerfort nach rechts und nach
links. Über den Lichtungen schwebte, eine Gehörhalluzination, die Stimme seiner
Mutter in den melodischen Trillern der Vögel und im Summen der Bienen. Jura
zuckte immer wieder zusammen, weil ihn dünkte, daß die Mutter ihn riefe.
    Er ging zu der Schlucht und
stieg hinunter. Aus dem lichten und sauberen Wald, der die obere Hälfte der
Schlucht bedeckte, gelangte er in das Erlengestrüpp auf ihrem Grund.
    Feuchte Finsternis, Windbruch
und Moder, wenig Blumen. Die gegliederten Stengel des Schachtelhalms erinnerten
an die Stäbe mit ägyptischen Ornamenten in seiner bebilderten Heiligen Schrift.
    Jura wurde immer trauriger.
Ihm war zum Weinen. Er kniete nieder und brach in Tränen aus.
    »Engel Gottes, mein heiliger
Beschützer«, betete er, »stärke meinen Verstand, auf daß ich den rechten Weg
finde, und sage meiner Mutter, daß es mir hier gut geht, damit sie sich keine
Sorgen macht. Wenn es ein Weiterleben nach dem Tode gibt, du mein Gott, so
lasse meine Mutter ein ins Paradies, wo die Antlitze der Heiligen und Märtyrer
in hellem Licht erstrahlen. Meine Mutter war so gut, und es kann nicht sein,
daß sie eine Sünderin war. Erbarme dich ihrer, du mein Gott, und gib, daß sie
nicht leiden muß. Mutter«, rief er in herzzerreißendem Weh zum Himmel wie zu
einer neuerschienenen Heiligen, und plötzlich fiel er zu Boden und verlor das
Bewußtsein.
    Er lag nicht lange ohne
Bewußtsein. Als er wieder zu sich kam, hörte er von oben den Onkel rufen. Er
antwortete und stieg hinauf. Plötzlich fiel ihm ein: Er hatte nicht für seinen
verschollenen Vater gebetet, wie seine Mutter es ihn gelehrt hatte.
    Aber ihm war so wohl nach der
Ohnmacht, daß er sich von diesem Gefühl der Leichtigkeit nicht trennen mochte
und Angst hatte, es zu verlieren. Und er dachte, es sei nicht weiter schlimm,
wenn er für den Vater ein andermal betete.
    Er kann warten. Er wird's
überstehen, so etwa dachte Jura. Er konnte sich überhaupt nicht an den Vater
erinnern.
     
    Im Zug, in einem Abteil
zweiter Klasse, reiste mit seinem Vater, einem Rechtsanwalt aus Orenburg,
Mischa Gordon, der das Gymnasium besuchte, ein elfjähriger Junge mit
nachdenklichem Gesicht und großen schwarzen Augen. Der Vater hatte eine
Anstellung in Moskau angenommen, und der Junge sollte in Moskau aufs Gymnasium
gehen. Seine Mutter und die Schwestern waren längst dort und kümmerten sich um
die Einrichtung der Wohnung.
    Sohn und Vater waren schon den
dritten Tag unterwegs.
    An ihnen vorüber flog, in
Wolken heißen, von der Sonne kalkweiß gefärbten Staubs gehüllt, Rußland, flogen
Felder und Steppen, Städte und Dörfer. Über die Landstraßen zogen Fuhrwerke,
bogen schwerfällig zu den Bahnübergängen ab, und aus dem dahinrasenden Zug
hatte man den Eindruck, daß die Fuhrwerke stillstünden und die Pferde die

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