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Boris Pasternak

Boris Pasternak

Titel: Boris Pasternak Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dr Shiwago
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zurück ins Haus, um meine Sachen zu holen, solche Angst hatte
ich. Ich hab sie gebeten, laßt mich mit dem Zug mitfahren, Onkelchens. Da haben
sie mich mitgenommen und weggebracht. Später bin ich - wirklich wahr - die
halbe Erde abgefahren, in der Fremde und bei uns, zusammen mit anderen
Besprisorniks, wo ich nicht alles war! Da hab ich die Freiheit kennengelernt,
ein Glück war das nach dem kindlichen Kummer! Freilich hab ich auch viel Not
und Sünde kennengelernt. Das war aber alles später, das erzähl ich euch ein
andermal. Damals ist ein Eisenbahner in das Wärterhaus gegangen, um das
Staatseigentum zu übernehmen, sich um Tante Marfa zu kümmern und ihr Leben zu
ordnen. Sie soll später im Irrenhaus gestorben sein. Andere sagen, sie ist
wieder gesund geworden.«
    Gordon und
Dudorow gingen nach dem Gehörten noch lange schweigend auf der Wiese hin und
her. Dann kam ein Lastwagen, plump und ungefüg, von der Straße auf die Wiese
gefahren. Die Kisten wurden aufgeladen. Gordon sagte: »Hast du mitgekriegt,
wer das ist, die Wäscheverwalterin Tatjana?«
    »Oh,
natürlich.«
    »Jewgraf
Shiwago will sich um sie kümmern.« Nach kurzem Schweigen fügte Gordon hinzu:
»So war es schon oft in der Geschichte. Etwas Erfundenes - ideal, erhaben - vergröbert
sich, wird zur Materie. So wurde aus Griechenland Rom, so wurde die russische
Aufklärung zur russischen Revolution. Nimm bloß mal Blocks >Wir Kinder von
Rußlands Schreckensjahren<, dann siehst du sofort den Unterschied der
Epochen. Als Block das sagte, war es in übertragenem Sinne, bildlich zu
verstehen. Die Kinder waren nicht Kinder, sondern Söhne, geistige Schöpfungen,
Intelligenz, und die Schrecken waren nicht schrecklich, sondern providentiell,
apokalyptisch, und das sind verschiedene Dinge. Jetzt ist alles Übertragene
wörtlich geworden, die Kinder sind Kinder, die Schrecken sind schrecklich, das
ist der Unterschied.«
     
    Fünf oder
zehn Jahre waren vergangen. An einem stillen Sommerabend saßen sie wieder
beisammen, Gordon und Dudorow, irgendwo hoch droben über dem endlosen
abendlichen Moskau am offenen Fenster. Sie blätterten in dem von Jewgraf
zusammengestellten Heft mit Juris Schriften, die sie schon oft gelesen hatten
und zur Hälfte auswendig wußten, wechselten Bemerkungen und gaben sich
Betrachtungen hin. Darüber wurde es dunkel, sie konnten die Buchstaben nicht
mehr erkennen und mußten Licht machen.
    Drunten
und in der Ferne lag Moskau, die Heimatstadt des Autors, in der er die Hälfte
seines Lebens verbrachte. Die Stadt dünkte sie jetzt nicht Schauplatz dieser
Ereignisse, sondern Hauptheldin einer langen Geschichte, deren Ende sie sich
jetzt näherten mit dem Heft in der Hand.
    Aufklärung
und Befreiung, die sie nach dem Krieg so erhofft hatten, waren nach dem Sieg
ausgeblieben, und doch schwebte in den Nachkriegsjahren eine Vorahnung der
Freiheit in der Luft und bildete ihren einzigen historischen Gehalt.
    Die
gealterten Freunde am Fenster hatten den Eindruck, daß die innere Freiheit
schon gekommen sei, daß sich gerade an diesem Abend die Zukunft spürbar in den
Straßen drunten ausbreitete und daß sie selbst in diese Zukunft eingetreten
waren und fortan in ihr sein würden. Ein glückliches, gerührtes Beruhigtsein um
diese heilige Stadt und um die ganze Erde, um die noch lebenden Teilnehmer dieser
Geschichte und ihre Kinder erfüllte sie und hüllte sie in die unhörbar
strömende Musik des Glycks. Das Büchlein in ihren Händen schien all das zu wissen und
verlieh ihren Gefühlen Unterstützung und Bestätigung.
     

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