Boris Pasternak
wurden.
Er trank unaufhörlich und
beklagte sich, schon seit drei Monaten nicht schlafen zu können, und wenn er
mal für kurze Zeit nüchtern sei, habe er Schmerzen, die ein normaler Mensch
sich nicht vorstellen könne.
Kurz vor seinem Tod kam er zu
ihnen ins Abteil gelaufen, ergriff Gordons Hand, wollte etwas sagen, brachte
aber nichts heraus, sondern lief hinaus und stürzte sich aus dem Zug.
Mischa betrachtete die kleine
Sammlung von Mineralien aus dem Ural in einer Holzschachtel, das letzte
Geschenk des Toten. Plötzlich geriet alles in Bewegung. Auf dem zweiten Gleis
näherte sich dem Zug eine Draisine. Ihr entstiegen ein Untersuchungsrichter mit
Kokarde an der Mütze, ein Arzt und zwei Polizisten. Ihre Stimmen klangen kühl
und sachlich. Sie stellten Fragen, notierten etwas. Zwei Zugschaffner und die
beiden Polizisten trugen den Toten, im Sand ausrutschend, ungeschickt die
Böschung hinauf. Eine Frau heulte los. Die Leute wurden in die Wagen gebeten,
dann ertönte ein Pfiff. Der Zug setzte sich in Bewegung.
Das hat mir gerade noch
gefehlt! dachte Nika ärgerlich und hastete durchs Zimmer. Die Stimmen der Gäste
näherten sich. Der Rückzug war abgeschnitten. Im Schlafzimmer standen zwei
Betten, das von Woskoboinikow und seins, Nikas. Ohne lange zu überlegen, kroch
er unter das zweite Bett.
Er hörte, wie sie in den
anderen Zimmern nach ihm suchten und ihn riefen und sich über sein Verschwinden
wunderten. Dann kamen sie ins Schlafzimmer.
»Was soll man machen«, sagte
Wedenjapin, »geh spazieren, Jura, vielleicht findet er sich später wieder, dein
Kamerad, dann könnt ihr spielen.« Sie sprachen ein Weilchen über die Unruhen an
den Universitäten von Petersburg und Moskau, zwangen Nika, an die zwanzig
Minuten in seiner dummen, demütigenden Lage auszuharren, und traten schließlich
auf die Terrasse. Leise öffnete Nika das Fenster, sprang hinaus und ging in den
Park.
Er hatte die letzte Nacht
nicht geschlafen und wußte heute nicht wohin mit sich. Bald würde er vierzehn
Jahre. Er hatte es satt, ein Kind zu sein. Heute morgen hatte er in aller Frühe
das Haus verlassen. Die Sonne ging auf, und auf der Erde im Park lag der lange,
taunasse, verschlungene Schatten der Bäume. Dieser war nicht schwarz, sondern
dunkelgrau wie durchnäßter Filz. Der betäubende Duft des Morgens schien von
diesem feuchten Schatten auszugehen, der längliche Lichtflecke hatte, wie die
Finger eines kleinen Mädchens.
Plötzlich floß ein Rinnsal
Quecksilber, ebenso blank wie die Tautropfen im Gras, ein paar Schritt von ihm
vorüber. Es floß und floß, und die Erde saugte es nicht ein. Auf einmal
schnellte es zur Seite und verschwand. Es war eine Haselnatter. Nika zuckte
zusammen.
Er war ein sonderbarer Junge.
Wenn er erregt war, pflegte er laut mit sich selbst zu sprechen. Wie seine
Mutter hegte er eine Neigung für Erhabenes und Paradoxes.
Wie schön es auf der Welt ist!
dachte er. Aber warum tut das immer so weh? Den Herrgott gibt es natürlich.
Doch wenn es ihn gibt, dann bin ich es. Ich werde ihr jetzt gebieten, dachte er
mit Blick auf eine Espe, durch die von unten bis oben ein Zittern ging und
deren feuchtschimmernde Blätter aus Blech gestanzt zu sein schienen, ich werde
ihr jetzt befehlen... Und mit einer wahnsinnigen Anstrengung aller seiner
Kräfte befahl er ihr, nicht flüsternd, sondern mit seinem ganzen Wesen, seinem
ganzen Sein denkend und wünschend: Stehe still! Und gehorsam erstarrte der Baum
in Reglosigkeit. Nika lachte vor Freude und stürmte, so schnell er konnte, zum
Fluß, um zu baden.
Sein Vater, der Terrorist
Dementi Dudorow, verbüßte seine Haftstrafe in der Zwangsarbeit, zu der er auf
allerhöchsten Erlaß begnadigt worden war; das Urteil hatte auf Tod durch den
Strang gelautet. Seine Mutter, die dem georgischen Fürstengeschlecht Eristow
entstammte, war eine launische und noch junge schöne Frau, die sich ewig für
irgend etwas begeisterte — für Meutereien, Meuterer, ausgefallene Theorien,
berühmte Maler, arme Pechvögel.
Sie vergötterte Nika und
machte aus seinem Vornamen Innokenti unzählige zärtliche und unsinnige
Kosenamen wie Inotschek oder Notschenka, und sie schleppte ihn mitunter nach
Tiflis, um ihn der Verwandtschaft vorzuführen. Am meisten beeindruckt hatte ihn
dort ein ausladender Baum im Hof des Hauses, in dem sie wohnten. Es war ein
ungefüger tropischer Riese. Mit seinen Blättern wie Elefantenohren beschattete
er den Hof vor dem glühenden südlichen Himmel. Nika
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