Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Boris Pasternak

Boris Pasternak

Titel: Boris Pasternak Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dr Shiwago
Vom Netzwerk:
Hufe
auf der Stelle höben und senkten.
    Auf den großen Haltepunkten stürmten
die Fahrgäste wie besessen ins Restaurant, und die sinkende Sonne hinter den
Bäumen des Bahnhofsgartens streifte ihre Beine und die Wagenräder.
    Alle Bewegungen auf der Welt
sind im einzelnen nüchtern berechnet, in ihrer Gesamtheit aber unbewußt trunken
von dem allgemeinen Strom des Lebens, der sie vereint. Die Menschen mühen und
rackern sich ab, in Bewegung gesetzt vom Mechanismus ihrer eigenen Sorgen. Aber
die Mechanismen würden nicht funktioniert haben, wäre nicht ihr Hauptregulator
eine tief in ihnen sitzende Sorglosigkeit. Diese Sorglosigkeit kommt durch das
Gefühl der Verbundenheit aller menschlichen Existenzen, von der Zuversicht, daß
die eine in die andere übergeht, von dem Glücksgefühl darüber, daß alles, was
geschieht, sich nicht nur auf der Erde vollzieht, in der die Toten begraben
werden, sondern noch auf einer anderen Ebene, was die einen das Reich Gottes,
die anderen Geschichte und dritte noch anders nennen.
    Von dieser Regel bildete der
Junge eine für ihn bittere und belastende Ausnahme. Seine Triebfeder blieb das
Gefühl der Besorgnis, und kein Gefühl der Unbekümmertheit erleichterte und
veredelte ihn. Er wußte um diesen seinen ererbten Charakterzug und suchte mit
ängstlichem Argwohn seine Anzeichen. Dieser Zug machte ihm Kummer. Er erniedrigte
ihn.
    Seit er denken konnte, hatte
er nie aufgehört, sich darüber zu wundern, daß jemand, der die gleichen Arme
und Beine, die gleiche Sprache und die gleichen Gewohnheiten hat, ganz anders sein
kann als alle anderen und noch dazu so, daß nur wenige ihn mögen und er nicht
geliebt wird. Es ging über seinen Verstand, daß ein Mensch, der schlechter ist
als andere, sich nicht durch eigene Bemühungen ändern und bessern kann. Was
bedeutete es, ein Jude zu sein? Wozu gab es so etwas? Was belohnte oder rechtfertigte
diese waffenlose Herausforderung, die nichts als Leid brachte? Wenn er sich an
seinen Vater wandte, um eine Antwort zu bekommen, erklärte ihm dieser, seine
Frage sei in ihrem Ausgangspunkt absurd und so könne man nicht denken, aber er
bot nichts anderes an, was Mischa durch seinen tiefen Sinn angezogen und
verpflichtet hätte, sich schweigend ins Unabänderliche zu fügen.
    Vater und Mutter
ausschließend, empfand Mischa allmählich völlige Verachtung für die
Erwachsenen, die eine Suppe eingerührt hatten, die sie nicht auszulöffeln
vermochten. Er war überzeugt, all dies entwirren zu können, wenn er erst einmal
erwachsen wäre.
    Auch jetzt hätte niemand sagen
mögen, daß sein Vater falsch gehandelt habe, als er diesem Verrückten
hinterherrannte auf die Plattform und daß er den Zug nicht hätte zum Halten
bringen sollen, als der Mann ihn heftig zurückstieß, die Wagentür aufriß und
sich bei voller Fahrt kopfüber hinausstürzte, so wie Badende vom Steg ins
Wasser springen.
    Da aber die Notbremse nicht
irgendwer, sondern Grigori Gordon gezogen hatte, war er der Grund, daß der Zug
so unerklärlich lange stand.
    Niemand kannte die Ursache für
die Verzögerung. Die einen sagten, durch den plötzlichen Halt seien die
Druckluftbremsen beschädigt worden, andere behaupteten, der Zug stehe auf einer
Steigung, die die Lokomotive ohne Anlauf nicht bewältige. Noch andere
verbreiteten das Gerücht, der Selbstmörder sei ein angesehener Mann gewesen,
daher verlange sein Anwalt, der mit ihm im Zug reise, daß von der nächsten
Station Kologriwowka Zeugen geholt werden müßten, damit ein Protokoll
aufgesetzt werden könne. Daher sei der Gehilfe des Lokführers auf den
Telegrafenmast gestiegen. Die Draisine sei gewiß schon unterwegs.
    Im Waggon roch es ein wenig
nach den Toiletten, und man versuchte, dem mit Kölnischwasser abzuhelfen, und
es roch nach gebratenen Hühnern, die, in schmutziges Fettpapier gewickelt,
schon einen leichten Stich hatten. Die Damen puderten sich, wischten sich die
Hände mit einem Tuch und unterhielten sich mit knarrenden tiefen Stimmen. Es
waren grauhaarige Damen aus Petersburg, die von dem Gemisch aus Lokomotivenruß
und Schminke dunkle Zigeunergesichter hatten. Wenn sie an Gordons Abteil
vorüberkamen, die eckigen Schultern in Überwürfe gehüllt, und die Enge des
Ganges in eine Quelle neuer Koketterie verwandelten, schloß Mischa aus ihren
eingekniffenen Lippen, daß sie zischten: »Ach, ich bitte Sie, wir sind doch so
sensibel! Wir sind besondere Menschen! Wir gehören zur Intelligenz! Wir können
das nicht

Weitere Kostenlose Bücher