Born to Run: Ein vergessenes Volk und das Geheimnis der besten und glücklichsten Läufer der Welt (German Edition)
Schwindel.«
Bowerman war bereits verstorben, als sich der Barfußaufstand im Jahr 2002 ausbreitete, also wandte sich Nike an Bowermans alten Mentor, um nachzufragen, ob an dieser Ohneschuh-Sache wirklich etwas dran sei. Arthur Lydiard, so wurde berichtet, schimpfte: »Natürlich! Stützt man einen bestimmten Körperteil, dann wird er schwächer. Setzt man ihn in erheblichem Umfang ein, wird er stärker. […] Lauft barfuß, und ihr erspart euch diesen ganzen Ärger. Schuhe, die den Fuß arbeiten lassen, als ob man barfuß wäre – das sind für mich die richtigen Schuhe«, schloss Lydiard.
Nike reagierte auf diesen Ausbruch mit dem Sammeln eigener Daten. Jeff Pisciotta, Leitender Wissenschaftler im Nike-Forschungslabor, versammelte 20 Läufer auf einem mit Gras bewachsenen Feld und filmte sie beim Barfußlaufen. Was er dann bei Nahaufnahmen zu sehen bekam, verblüffte ihn: Der Fuß plumpste nicht mehr zu Boden, wie er das in einem Schuh tun würde, sondern verhielt sich wie ein Tier mit einem eigenen Willen – er streckte sich, suchte den Kontakt, erspürte den Untergrund mit gespreizten Zehen und glitt zur Landung heran wie ein Schwan auf einem See.
»Es ist wunderbar, so etwas zu beobachten«, sagte mir ein immer noch sichtlich faszinierter Pisciotta später. »So kamen wir auf den Gedanken, dass ein Schuh, sobald man ihn anzieht, auch einen Teil der Bewegungskontrolle übernimmt.« Sofort beauftragte er sein Team damit, weltweit Filmmaterial von jeder noch bestehenden Barfußkultur zu sammeln, die man nur aufstöbern konnte. »Wir fanden auf der ganzen Welt Gruppen von Menschen, die immer noch barfuß laufen, und bei ihnen kann man feststellen, dass sie während der Vortriebsphase und Landung einen sehr viel größeren Bewegungsumfang im Fuß zeigen und die Zehen stärker einsetzen. Ihre Füße werden angespannt, breiten sich aus und spreizen sich und greifen den Untergrund, und dadurch wird die Pronation verringert und der Druck besser verteilt.«
Nike stand vor der unvermeidlichen Schlussfolgerung, dass man faule Früchte verkauft hatte, zog daraus aber den Schluss, dass man künftig aus diesen Früchten hergestellte Limonade verkaufen wollte. Jeff Pisciotta wurde zum Leiter eines hochgeheimen und vermeintlich aussichtslosen Projekts ernannt: Er sollte herausfinden, wie man mit nackten Füßen Geld verdienen konnte.
Pisciotta brauchte zwei Jahre bis zur Präsentation seines Meisterwerks. Es wurde der Welt in Fernsehwerbespots vorgestellt, die so viele Barfußathleten zeigten – kenianische Marathonläufer beim Querfeldeinlauf auf einem unbefestigten Pfad, Schwimmer, die ihre Zehen um den Startblock krümmten, Turner und brasilianische Capoeira-Tänzer und Felskletterer und Ringer und Karatemeister und Strandfußballer -, dass man sich nach einer gewissen Zeit kaum noch daran erinnern konnte, wer überhaupt noch Schuhe trug – oder warum.
Die Bilder wurden mit motivierenden Botschaften überblendet: »Deine Füße sind dein Fundament. Weck sie auf! Mach sie stark! Nimm Kontakt zum Boden auf … Natürliche Technologie ermöglicht natürliche Bewegung … Mach deine Füße stark.« Auf einer nackten Fußsohle liest man den Schriftzug »Leistung beginnt hier«. Und dann kommt das große Finale: Im Hintergrund hört man ein anschwellendes »Tiptoe Through the Tulips«, und wir kommen auf die Kenianer zurück, an deren bloßen Füßen man jetzt so etwas wie einen dünnen kleinen Schuh erkennen kann. Es ist der neue Nike Free, ein Halbschuh mit Swoosh, der noch dünner ist als der alte Cortez.
Und der Werbespruch dazu?
»Lauf barfuß.«
26
Baby, this town rips the bone from your back;
It’s a death trap, it’s a suicide rap …
Bruce Springsteen, »Born to Run«
Caballo Blanco strahlte vor Stolz, also überlegte ich, was ich ihm Nettes sagen könnte.
Wir waren eben erst in Batopilas angekommen, einem alten Bergbaustädtchen, das 2400 Meter unter dem Canyonrand lag. Es wurde vor 400 Jahren gegründet, als spanische Eroberer in dem steinigen Fluss Silbererz entdeckten, und hat sich seitdem nicht sehr verändert. Es ist immer noch eine winzige Häuserreihe, die sich ans Flussufer klammert, ein Ort, an dem Esel ein so vertrauter Anblick sind wie Autos, und wo der erste Telefonanschluss installiert wurde, als der Rest der Welt bereits iPods programmierte.
Wer es bis dorthin schaffen wollte, brauchte einen Magen aus Gusseisen und einen alles überragenden Glauben an seine Mitmenschen, und der Mensch,
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