Born to Run: Ein vergessenes Volk und das Geheimnis der besten und glücklichsten Läufer der Welt (German Edition)
verhasst waren wie Polizisten. Hier ist nicht von Verrätern oder Polizeispitzeln die Rede, die im Fachjargon ebenfalls »singen«; nein, diese Leute hassten richtige, auf der Gitarre klimpernde, Liebeslieder vortragende Schnulzensänger. In nur 18 Monaten hatten die Drogenbanden 15 Sänger hingerichtet, darunter auch Zayda Peña Arjona, die 28 Jahre alte, wunderschöne Sängerin von Zayda y Los Culpables, die im Anschluss an ein Konzert niedergeschossen wurde; sie überlebte diesen ersten Anschlag, aber das Killerteam verfolgte sie bis ins Krankenhaus und erschoss die Künstlerin, die sich dort von ihrer Operation erholte. Der Frauenschwarm Valentín Elizalde starb im Kugelhagel einer Kalaschnikow in einem grenznahen Ort auf der mexikanischen Seite, unweit der Stadt McAllen in Texas, und Sergio Gómez wurde ermordet, kurz nachdem er für einen Grammy nominiert worden war. Die Mörder verbrannten seine Genitalien, dann erwürgten sie ihr Opfer und warfen den Leichnam auf die Straße. All diesen Künstlern wurde, soweit das überhaupt jemand erklären konnte, ihr Ruhm, ihr gutes Aussehen und ihr Talent zum Verhängnis. Die Sänger beeinträchtigten das den Drogenbaronen so wichtige Gefühl der eigenen Bedeutsamkeit, und deshalb mussten sie sterben.
Die bizarre Fatwa gegen Balladensänger war eine von Emotionen bestimmte und nicht vorhersagbare Vorgehensweise, aber das Verdikt gegen Reporter war rein geschäftlicher Natur. Amerikanische Blätter griffen mexikanische Zeitungsberichte über die Drogenkartelle auf, was amerikanischen Politikern unangenehm war, die dann ihrerseits Druck auf die Drug Enforcement Administration (DEA), die US-Drogenbehörde, ausübten, gegen die Händler vorzugehen. Die wütenden Zetas warfen Handgranaten in Redaktionsbüros und schickten sogar Mörder über die Grenze, um unliebsame amerikanische Journalisten zur Strecke zu bringen. Innerhalb von sechs Jahren wurden 30 Reporter ermordet, und der Herausgeber der Zeitung von Villahermosa fand eines Tages vor seinem Redaktionsgebäude den abgetrennten Kopf eines untergeordneten Drogenpolizisten und einen Zettel, auf dem zu lesen war: »Du bist der Nächste.« Der Blutzoll war so fürchterlich, dass Mexiko schließlich bei der Zahl der getöteten oder entführten Reporter weltweit nur noch vom Irak übertroffen wurde.
Und wir hatten den Kartellen jetzt eine Menge Arbeit abgenommen. Ein Sänger und ein Journalist waren unaufgefordert bei ihnen vorgefahren. Ich schob mein Notizbuch in meine Hose und prüfte schnell, ob es in der vorderen Wagenhälfte noch mehr zu verstecken gab. Es war aussichtslos. Überall lagen Kassetten von Salvadors Gruppe herum, in meiner Brieftasche steckte ein leuchtendroter Presseausweis, und zwischen meinen Füßen hatte ich einen Rucksack abgestellt, der mit Tonbandgeräten, Schreibwerkzeug und einer Kamera vollgestopft war.
Der rote Dodge kam längsseits. Es war ein herrlicher, sonniger Tag, an dem ein kühler, nach Kiefern riechender Wind wehte, aber die Fenster des Pick-ups waren fest geschlossen, was die Insassen hinter den rauchschwarzen Scheiben für uns unsichtbar machte. Das Gefährt wurde langsamer, kroch polternd dahin.
Fahrt einfach weiter, schoss es mir durch den Kopf. Nicht anhalten, nicht anhalten, nicht nicht nicht …
Der Wagen hielt an. Aus den Augenwinkeln sah ich, dass Salvador stur geradeaus schaute und die Hände auf das Lenkrad gelegt hatte. Auch ich sah wieder geradeaus und rührte mich nicht.
Wir saßen regungslos da.
Sie saßen.
Wir waren still.
Sie waren still.
Sechs Morde pro Woche, dachte ich. Sie verbrannten seine Genitalien . Ich stellte mir vor, wie mein Kopf auf eine Tanzfläche in Chihuahua rollte und Pfennigabsatzträgerinnen darüber in Panik gerieten.
Ein plötzliches Motorengebrumm. Meine Augen wanderten abermals nach links. Der große rote Dodge war wieder zum Leben erwacht und dröhnte vorbei.
Salvador beobachtete im Seitenspiegel, wie das Todesmobil in einer Staubwolke verschwand. Dann klopfte er auf sein Lenkrad und ließ seine Ay-yay-yay -Kassette wieder laufen.
»Bueno!«, rief er. »Andale pues, a más aventuras!« Gut so! Auf zu neuen Abenteuern!
Teile meines Körpers, die sich so fest verkrampft hatten, dass sie Walnüsse hätten knacken können, entspannten sich langsam wieder. Aber nicht lange.
Einige Stunden später trat Salvador hart auf die Bremse. Er setzte ein Stück zurück, bog von dem ausgefahrenen Weg scharf nach rechts ab und fuhr zwischen den
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