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Born to Run: Ein vergessenes Volk und das Geheimnis der besten und glücklichsten Läufer der Welt (German Edition)

Born to Run: Ein vergessenes Volk und das Geheimnis der besten und glücklichsten Läufer der Welt (German Edition)

Titel: Born to Run: Ein vergessenes Volk und das Geheimnis der besten und glücklichsten Läufer der Welt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christopher McDougall
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ein Piratenhemd bauschte. Bei jeder Bewegung sah man auch, wie sich seine Beinmuskeln bewegten und eine neue Form annahmen wie geschmolzenes Metall.
    »Wir sind uns schon einmal begegnet«, sagte Salvador auf Spanisch.
    Arnulfo nickte.
    Drei Jahre nacheinander hatte Arnulfo einen tagelangen Fußmarsch auf sich genommen, um in Guachochi bei einem 100-Kilometer-Rennen durch die Canyons anzutreten. Das ist ein jährlich ausgetragenes, für alle Interessenten offenes Rennen, zu dem Tarahumara von überallher aus den Sierras und die wenigen mexikanischen Läufer, die bereit sind, ihre Beine und ihr Glück im Wettkampf mit den Stammesleuten auf die Probe zu stellen, zusammenkommen. Arnulfo hatte es dreimal in Folge gewonnen. Er übernahm den Titel von seinem Bruder Pedro, und den zweiten und dritten Platz belegten sein Cousin Avelado und sein Schwager Silvino.
    Silvino war ein seltsamer Fall, ein Tarahumara, der auf der Grenzlinie zwischen alter und neuer Welt balancierte. Vor Jahren war ein Mitglied der Christian Brothers, ein Mann, der eine Tarahumara-Schule betrieb, mit Silvino zu einem Marathonlauf irgendwo in Kalifornien gezogen. Silvino gewann und brachte so viel Geld nach Hause, dass es für einen alten Pick-up, ein Paar Jeans und einen neuen Anbau für das Schulhaus reichte. Silvino hatte den Pick-up oben, am Rand des Canyons, abgestellt und stieg gelegentlich dort hinauf, um nach Guachochi zu fahren. Er war aber nie wieder in den Rennbetrieb zurückgekehrt, obwohl er damit eine sichere Geldquelle entdeckt hatte.
    Im Vergleich zum Rest der Welt sind die Tarahumara ein lebender Widerspruch: Sie grenzen sich von Außenstehenden ab, sind aber zugleich auch fasziniert von der Welt, die sie umgibt. Einerseits leuchtet das auch ein: Wenn man gern außergewöhnlich lange Strecken läuft, muss es sehr verlockend sein, einfach loszulaufen und herauszufinden, wohin (und wie weit) einen die eigenen Beine tragen. Einmal tauchte ein Tarahumara-Mann sogar in Sibirien auf. Irgendwie hatte er sich auf ein Trampschiff verirrt und es bis in die Weiten der russischen Steppe geschafft, wo er schließlich aufgegriffen und per Schiff nach Mexiko zurückgebracht wurde. Im Jahr 1983 wurde eine Tarahumara-Frau mit ihren typischen wirbelnden Röcken in einer Kleinstadt in Kansas entdeckt, wo sie durch die Straßen spazierte. Sie verbrachte die folgenden zwölf Jahre in einer Heilanstalt, bis einer Sozialarbeiterin endlich auffiel, dass sie keineswegs nur wirres Zeug redete, sondern eine unbekannte Sprache sprach.
    »Würden Sie jemals in den Vereinigten Staaten zu Rennen antreten?«, fragte ich Arnulfo.
    Er kaute nach wie vor Limetten und spuckte Samenkörner aus. Nach einiger Zeit zuckte er mit den Schultern.
    »Werden Sie in Guachochi wieder antreten?«
    Mampf. Mampf. Schulterzucken.
    Jetzt wusste ich, was Carl Lumholtz gemeint hatte, als er schrieb, die Tarahumara-Männer seien so scheu, dass der Stamm ohne Bier bereits ausgestorben wäre. »Es mag zwar unglaublich klingen«, hatte Lumholtz sinniert, »aber ich zögere nicht, hier zu erklären, dass der unzivilisierte Tarahumara im alltäglichen Leben zu scheu und bescheiden ist, um seine ehelichen Rechte und Privilegien durchzusetzen; die Rasse überlebt in erster Linie durch den Einfluss des Tesvino und nimmt auch zahlenmäßig zu.« Übersetzung: Tarahumara-Männer brachten es nicht fertig, sich den eigenen Ehefrauen mit romantischen Absichten zu nähern, wenn sie ihre Scheu nicht zuvor in selbstgebrautem Maisbier ertränkten.
    Erst später fand ich heraus, dass ich auch selbst noch Sand ins Getriebe der Kontaktaufnahme geschüttet und für die große Panne Nummer zwei gesorgt hatte, indem ich den Mann im Stil eines Polizisten befragte. An Arnulfos Schweigen war nichts Unhöfliches; ich benahm mich mit meiner Fragerei aufdringlich. Direkte Fragen sind für die Tarahumara eine Machtdemonstration, der Fragesteller verlangt nach Besitztümern in ihrem Kopf. Sie werden sich in einer solchen Situation bestimmt nicht öffnen und ihre Geheimnisse vor einem Fremden ausbreiten; Fremde waren zunächst einmal der Grund gewesen, warum sich die Tarahumara hier unten versteckten. Und das letzte Mal, als sich die Tarahumara der Außenwelt geöffnet hatten, hatte diese Außenwelt sie in Ketten gelegt und ihre abgeschnittenen Köpfe auf übermannshohe Pfähle gesteckt. Spanische Silberjäger hatten das Tarahumara-Land – und die Arbeitskraft des Stammes – für sich beansprucht, indem sie die

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