Born to Run: Ein vergessenes Volk und das Geheimnis der besten und glücklichsten Läufer der Welt (German Edition)
Variante des perfekten Verbrechens. Die Ausdauerjagd (so nennen sie die Anthropologen) hinterlässt keine gerichtsverwertbaren Indizien – keine Pfeilspitzen, keine von Speeren verursachten Kerben im Rückgrat von Rotwild. Wie soll man also eine Tötung nachweisen, wenn man weder einen Leichnam noch eine Waffe oder Zeugen beibringen kann? Dr. Bramble und Dr. Lieberman konnten, bei aller physiologischen Brillanz und allem Fossilienfachwissen, unmöglich beweisen, dass unsere Beine einst tödliche Waffen waren, wenn sie nicht zeigen konnten, dass irgendjemand, irgendwo, tatsächlich ein Tier im Dauerlauf zu Tode gehetzt hatte. Man kann jede beliebige Theorie über die menschliche Leistungsfähigkeit in die Welt setzen (»Wir können unseren eigenen Herzschlag anhalten! Wir können durch Willenskraft Löffel verbiegen!«), aber letztlich gelingt der Übergang von der ansprechenden Vorstellung zur empirisch gesicherten Tatsache nicht, wenn man den Wahrheitsbeweis nicht antritt.
»Das Frustrierende dabei war, dass wir in aller Welt auf entsprechende Geschichten stießen«, sagte David Carrier. Man werfe einen Dartpfeil irgendwohin auf eine Landkarte, und die Chancen stehen gut, dass man einen Ort trifft, zu dem es eine Ausdauerjagdgeschichte gibt. Die Gosiute und die Papago, zwei Indianerstämme im Westen Nordamerikas, erzählten sich davon; ebenso die Kalahari-Buschleute (San) in Botswana, die Aborigines in Australien, die Massai-Krieger in Kenia, die Seri- und Tarahumara-Indianer in Mexiko. Das Problem bestand darin, dass diese Legenden bestenfalls aus vierter oder fünfter Hand stammten. Die Beweise für ein solches Geschehen waren so überzeugend wie die Anhaltspunkte für Davy Crocketts Bärentötertat im Alter von drei Jahren.
»Wir fanden niemanden, der selbst an einer Ausdauerjagd teilgenommen hatte«, sagte David. »Und wir fanden niemanden, der so etwas auch nur gesehen hatte.« Kein Wunder, dass die Wissenschaftsgemeinde skeptisch blieb. Wenn die Theorie vom Laufenden Menschen zutraf, sollte zumindest eine Person auf diesem inzwischen von sechs Milliarden Menschen bewohnten Planeten imstande sein, eine Beute zu Fuß zu erlegen. Wir haben vielleicht die Tradition und die schiere Notwendigkeit eingebüßt, aber wir sollten immer noch über die angeborene Fähigkeit verfügen: Unsere DNS hat sich seit Jahrhunderten nicht geändert und ist weltweit zu 99,9 Prozent identisch, und das bedeutet, dass wir alle dieselben körperlichen Merkmale haben wie die Jäger und Sammler in grauer Vorzeit. Warum also konnte keiner von uns ein gewöhnliches Stück Wild zu Fuß zur Strecke bringen?
»Deshalb beschloss ich, das selbst zu tun«, sagte David. »Als Student lief ich bei Bergrennen mit und hatte viel Spaß dabei. Deshalb verstand ich wohl leichter, was das für unsere Spezies bedeuten könnte, als die Frage aufkam, wie sich unsere Atmung verändert, wenn wir laufen. Der Gedanke klang für mich nicht so seltsam wie für jemanden, der noch nie aus dem Labor herausgekommen war.«
Auch die Vorstellung, selbst zum Höhlenmenschen zu werden, wenn er schon keinen finden konnte, schien für ihn nichts Merkwürdiges an sich zu haben. Im Sommer 1984 überredete David seinen Bruder Scott, einen freiberuflichen Autor und Reporter für National Public Radio, mit ihm nach Wyoming zu gehen und ihm dort bei der Jagd auf wilde Antilopen zu helfen. Scott war kein besonderer Läufer, aber David war in hervorragender Verfassung und durch die Aussicht auf wissenschaftliche Unsterblichkeit äußerst motiviert. Mit der Hilfe seines Bruders, so dachte er sich, sollte es nur zwei Stunden dauern, bis ein 360 Kilo schweres Beweisstück hilflos zappelnd zu seinen Füßen lag.
»Wir biegen vom Interstate Highway ab, fahren einige Kilometer weit auf einer unbefestigten Straße und finden uns in einer weiten, offenen, knochentrockenen Hochlandeinöde mit Beifußsträuchern wieder, Berge ringsum. Überall gibt es Antilopen.« So beschrieb Scott später dann seinen Hörern in der NPR-Sendung This American Life die Szenerie. »Wir stellen das Auto ab und jagen drei von ihnen zu Fuß nach – einem Bock und zwei Kühen. Sie laufen sehr schnell, aber nur kurze Strecken, dann halten sie an und starren in unsere Richtung, bis wir aufgeholt haben. Dann rennen sie wieder los. Manchmal laufen sie einen halben, manchmal einen Kilometer weit.«
Perfekt! Das Geschehen entwickelte sich genau so, wie David vorhergesagt hatte. Die Antilopen hatten nicht genug
Weitere Kostenlose Bücher