Born to Run: Ein vergessenes Volk und das Geheimnis der besten und glücklichsten Läufer der Welt (German Edition)
Zeit, um ihre Körpertemperatur abzukühlen, bis David und Scott ihnen mit ihrem Geschrei wieder auf den Fersen waren. Noch ein paar Kilometer, so dachte sich David, und er würde mit einem Kofferraum voll Wildbret und einem Killervideo, das er Dr. Bramble auf den Schreibtisch knallen konnte, nach Salt Lake City zurückfahren. Sein Bruder hatte dagegen das Gefühl, dass hier etwas ganz Anderes vor sich ging.
»Die drei Antilopen schauen mich an, als wüssten sie ganz genau, was wir im Schilde führen, und seien darüber nicht im Geringsten besorgt«, fährt Scott fort. Rasch fand er heraus, warum sie im Angesicht des ihnen vermeintlich bevorstehenden Todes so ruhig blieben. Anstatt vor Erschöpfung zusammenzubrechen, griffen die Antilopen zu einem Täuschungsmanöver. Wenn sie kurzatmig wurden, änderten sie die Laufrichtung, reihten sich wieder in die Herde ein und verbargen sich dort, so dass David und Scott überhaupt nicht mehr zu sagen wussten, welche Tiere müde und welche ausgeruht waren. »Sie mischen sich unter die anderen, schwimmen in der Herde mit und wechseln ihren Standort«, sagt Scott. »Es gibt keine Individuen mehr, sondern nur diese Masse, die sich durch die Wüste bewegt wie eine Quecksilberpfütze auf einem Glastisch.«
Die beiden Brüder jagten noch zwei Tage lang Quecksilberkügelchen über die Prärie von Wyoming und begriffen dabei nicht, dass sie sich inmitten eines wunderbaren Fehlers bewegten. Davids Scheitern war ein unwissentlich geführter Beweis für seine eigene Theorie: Das menschliche Laufen unterscheidet sich von allen anderen Laufformen der Erde. Man kann durch bloße Nachahmung keine anderen Tiere erlegen, schon gar nicht durch den Einsatz jener groben Annäherung an das tierische Laufen, die wir im modernen Sport konserviert haben. David und Scott verließen sich auf Instinkt, Stärke und Ausdauer, ohne zu erkennen, dass der menschliche Langstreckenlauf auf seinem im evolutionären Kontext höchsten Niveau sehr viel mehr ist als das. Er ist eine Mischung aus Strategie und Können, die im Verlauf von Jahrmillionen in Situationen perfektioniert wurde, in denen von der richtigen Entscheidung das eigene Überleben abhing. Und der menschliche Langstreckenlauf verlangt, wie jede andere Kunst auch, eine Koordination von Verstand und Körper, zu der kein anderes Lebewesen fähig ist.
Aber er ist eine vergessene Kunst, wie Scott Carrier im Verlauf des nächsten Jahrzehnts herausfinden sollte. Dort draußen, in der Prärie von Wyoming, geschah etwas Seltsames: Der Reiz der verlorenen Kunst ergriff von Scott Besitz und ließ ihn nicht mehr los. Trotz der Aussichtslosigkeit jener ersten Expedition verbrachte Scott Jahre mit Recherchen zur Ausdauerjagd, die er für seinen Bruder unternahm. Er gründete sogar ein gemeinnütziges Unternehmen, das sich zum Ziel setzte, den »Letzten Überlebenden unter den Langstreckenjägern« zu finden, und warb den Elite-Ultralangstreckler Creighton King – der bis zum Auftreten der Skaggs-Brüder Double-Grand-Canyon-Rekordhalter war – für eine Expedition zum Golf von Kalifornien an, wo dem Vernehmen nach ein winziger Clan von Seri-Indianern die Verbindung zu unserer Langstreckenlauf-Vergangenheit bewahrt haben sollte.
Scott fand diesen Klan – aber er kam zu spät. Zwei Alte aus dieser Gruppe hatten noch von ihrem Vater das Laufen nach althergebrachter Art erlernt, aber sie waren seit einem halben Jahrzehnt ohne Übung und zu alt, um diese Tradition auch nur demonstrieren zu können.
Das war das Ende eines langen Weges. Die Jagd auf den einen Menschen unter sechs Milliarden hatte bis zum Jahr 2004 20 Jahre gedauert und war ergebnislos geblieben. Scott Carrier gab auf. Sein Bruder David hatte sich schon lange vorher anderen Themen zugewandt und untersuchte jetzt Strukturen körperlicher Auseinandersetzungen bei Primaten. Der »Letzte Überlebende unter den Langstreckenjägern« war nun ein ungelöster Fall.
Natürlich klingelte dann das Telefon.
»Ganz unverhofft bin ich plötzlich mit diesem Unbekannten im Gespräch«, beginnt Dr. Bramble seinen Bericht. Mit den ungepflegten grauen Haaren und dem frischen Rancherhemd sieht er wie ein alter Cowboy aus, es ist ein Stil, der perfekt zu den nackten Tierschädeln an den Wänden seines Labors und zu seiner fesselnden »Setzen-wir-uns-doch-ans-Lagerfeuer«-Erzählweise passt. Bis zum Jahr 2004, so berichtet Dr. Bramble, hatte das Utah-Harvard-Team 26 für Langstreckenläufer typische Merkmale am
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