Born to Run: Ein vergessenes Volk und das Geheimnis der besten und glücklichsten Läufer der Welt (German Edition)
Kalorienverbrauch verbundene Gelegenheiten reserviert blieben. Die Horde begab sich geschlossen auf die Suche nach Essbarem – Laufende Männer, Laufende Frauen, Laufende Kinder und Großeltern -, aber trotz aller gemeinsamen Tätigkeit war die Wahrscheinlichkeit, dass man nur Insektenlarven verspeisen würde, größer als die Chance, ein Stück Wildfleisch zu ergattern.
Pah! Die Neanderthaler rührten weder Insekten noch Nahrung an, die in der Erde wuchs. Sie aßen Fleisch und nur Fleisch, aber keineswegs knorpelige kleine Antilopen. Neanderthaler waren hinter dem allerbesten Material her: hinter Bären, Bisons und Elchen, deren durchwachsenes Fleisch auch saftiges Fett enthielt, hinter Rhinozerossen mit eisenhaltigen Lebern und Mammuts mit ihren köstlichen, fetthaltigen Gehirnen und Knochen, von denen das wohlschmeckende Mark nur so troff. Wer solche Ungeheuer zu jagen versucht, macht jedoch die Erfahrung, dass er dabei selbst zum Gejagten wird. Der Mensch muss sie deshalb mit List überwinden. Der Neanderthaler lockte sie in Hinterhalte, startete einen Zangenangriff und stürmte von allen Seiten mit zweieinhalb Meter langen Holzlanzen heran. Eine Jagd dieser Art ist nichts für die Zaghaften. Wissenschaftler hatten festgestellt, dass die Neanderthaler Verletzungen erlitten, die man auch im Rodeobetrieb findet, Hals- und Schädeltraumata, die ihnen von den auskeilenden Bestien zugefügt wurden, aber sie konnten sich auf ihre eigene Horde verlassen, die ihre Wunden versorgte und ihre Leichen bestattete. In Wirklichkeit waren die Neanderthaler – anders als unsere wahren Vorfahren, jene unentwegt Laufenden Menschen – die kraftvollen Jäger, als die wir sie uns in grauer Vorzeit so gern vorstellen. Sie standen Seite an Seite im Kampf, eine geschlossene Front aus Intelligenz und Tapferkeit, schlaue, muskelbepackte Krieger, die aber dennoch intelligent genug waren, um ihr Fleisch in Erdöfen langsam zu garen, bis es zart war, und ihre Frauen und Kinder von Gefahren fernzuhalten.
Die Neanderthaler beherrschten die Welt – bis die allgemeinen Lebensbedingungen günstiger wurden. Vor etwa 45 000 Jahren endete dann der Lange Winter, und eine Warmzeit setzte ein. Die Wälder schrumpften, an ihre Stelle trat von der Hitze versengtes Grasland, das sich bis zum Horizont erstreckte. Das neue Klima bot den Laufenden Menschen hervorragende Lebensbedingungen. Die Antilopenherden explodierten, und überall in der Savanne sprossen dicke, essbare Wurzeln.
Für die Neanderthaler begannen dagegen härtere Zeiten. Ihre langen Speere und Hinterhalte an Engstellen nutzten ihnen bei der Jagd auf die flinken Geschöpfe des Graslandes nichts, und das von ihnen bevorzugte Großwild zog sich immer tiefer in die kleiner werdenden Wälder zurück. Und warum übernahmen sie nicht einfach die Jagdtechnik der Laufenden Menschen? Sie waren klug und mit Sicherheit auch stark genug, aber das war auch ihr Problem: Sie waren zu stark. Sobald die Temperaturen über etwa 30 Grad Celsius steigen, machen ein paar Pfund zusätzliches Körpergewicht einen großen Unterschied aus – er ist so groß, dass ein Läufer mit einem Körpergewicht von 72 Kilogramm gegen einen 45-Kilo-Läufer auf der Marathonstrecke fast zwei Minuten pro Kilometer verliert, wenn er sein Temperaturgleichgewicht halten will. Bei einer zwei Stunden dauernden Jagd auf ein Stück Rotwild würden die Laufenden Menschen die Neanderthaler-Konkurrenz fast 16 Kilometer hinter sich lassen.
Die muskelbepackten Neanderthaler folgten den Mastodons in die schwindenden Wälder – und in die Vergessenheit. Laufen war nichts für sie, aber die neue Welt war für Läufer wie gemacht.
David Carrier wusste insgeheim, dass die Theorie vom Laufenden Menschen einen entscheidenden Fehler hatte. Das Geheimnis quälte ihn, bis es ihn fast zum Mörder machte.
»Ja, ich war ziemlich besessen«, räumte er ein, als ich ihn in seinem Labor an der Universität von Utah besuchte, 25 Jahre und drei akademische Abschlüsse nach dem Augenblick der Inspiration, den er im Jahr 1982 am Seziertisch erlebt hatte. Er war jetzt Dr. David Carrier, Professor der Biologie, ein Mann mit einem bereits ergrauenden breiten Schnauzbart und einer randlosen Brille über den ausdrucksstarken braunen Augen. »Ich wollte unbedingt etwas in Händen halten und sagen können: ›Seht her! Seid ihr jetzt zufrieden?‹«
Das Problem ergab sich aus folgender Tatsache: Ein Tier zu Tode zu jagen ist die evolutionsgeschichtliche
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