Born to Run: Ein vergessenes Volk und das Geheimnis der besten und glücklichsten Läufer der Welt (German Edition)
der zur Sicherung eines Gyroskops diente, trug Willie noch Elektroden am Körper, die an Brust und Beinen befestigt waren. Dr. Lieberman hatte ihn als Versuchsperson verpflichtet, um seine Theorie zu überprüfen, dass der menschliche Kopf mit seiner einzigartigen Anordnung direkt über dem Genick eine ähnliche Funktion erfüllt wie die Ballastgewichte auf Wolkenkratzerdächern, die verhindern sollen, dass solche Gebäude bei starkem Wind zu sehr schwanken. Lieberman ging davon aus, dass unsere Köpfe nicht einfach größer wurden, weil wir uns zu besseren Läufern entwickelten. Er sah das umgekehrt: Wir wurden zu besseren Läufern, weil unsere Köpfe größer wurden und deshalb mehr Ballast beisteuerten.
»Der menschliche Kopf wirkt mit den Armen zusammen und verhindert so, dass sich der Körper mitten in der Vorwärtsbewegung dreht oder neigt«, sagte Dr. Lieberman. Die Arme dienen unterdessen auch als Gegengewicht, das den Kopf gerade hält. »So lösten Zweibeiner das Problem der Stabilisierung des Kopfes bei beweglichem Genick. Das ist ein weiteres Merkmal der Evolution des Menschen, das nur im Zusammenhang mit seiner Lauffähigkeit einen Sinn ergibt.«
Die Ernährung blieb allerdings nach wie vor das große Rätsel. Mit Blick auf das godzillaähnliche Wachstum unserer Köpfe konnte Lieberman den genauen Zeitpunkt bestimmen, zu dem sich der Speisezettel des Höhlenmenschen änderte: Das musste vor zwei Millionen Jahren gewesen sein, als der affenähnliche Australopithecus – mit seinem noch winzigen Gehirn, den riesigen Kiefern und der Ziegenbockernährung durch zähe Faserpflanzen – sich zum Homo erectus weiterentwickelte, unserem schlanken, langbeinigen Vorfahren mit dem großen Kopf und kleinen, scharfen Zähnen, welche sich perfekt für rohes Fleisch und weiches Obst eigneten. Ein derart dramatischer Umschwung konnte nur durch eine Sache bewirkt worden sein: eine Ernährung, die kein anderer Primat bis zu diesem Zeitpunkt genossen hatte, an erster Stelle eine zuverlässige Versorgung mit Fleisch und den damit verbundenen großen Mengen an Kalorien, Fett und Proteinen.
»Und wo zum Teufel hatten sie das her?«, fragt Lieberman mit der Begeisterung eines Mannes, der nicht zimperlich ist, wenn es darum geht, Ziegen mit Steinwerkzeugen aufzuschneiden. »Pfeil und Bogen sind 20 000 Jahre alt. Die Speerspitze ist 200 000 Jahre alt. Aber der Homo erectus ist rund zwei Millionen Jahre alt! Das bedeutet, dass die Hominiden sich über die längste Zeit unseres Bestehens hinweg – seit fast zwei Millionen Jahren! – ihr Fleisch mit bloßen Händen beschafften.«
Lieberman spielte die Möglichkeiten in seinem Kopf durch. »Vielleicht beschafften wir uns Kadaver, die von anderen Raubtieren getötet worden waren?«, fragte er sich. »Vielleicht schlichen wir uns an und schnappten uns die Beute, während der Löwe schlief?«
Nein, denn das hätte uns zwar den Appetit auf Fleisch, aber keinen verlässlichen Zugang verschafft. Man müsste zum Ort einer Tötung gelangen, bevor die Geier erschienen, die eine Antilope innerhalb von Minuten zerlegen können und »Knochen wie Cracker zerkauen«, wie sich Lieberman gern ausdrückt. Und selbst dann könnte man sich vielleicht nur ein paar Happen sichern, bis der Löwe ein Auge öffnet und uns einen unheilvollen Blick zuwirft oder ein Rudel Hyänen am Tatort erscheint und die Konkurrenz vertreibt.
»Okay, wir hatten vielleicht keine Speere. Aber wir hätten uns auf ein Wildschwein stürzen und es erwürgen oder mit Knüppeln erschlagen können.«
Soll das ein Witz sein? Bei einem solchen Hauen und Stechen würden den Menschen die Füße zertrampelt, die Hoden zerfetzt, die Rippen gebrochen. Sie würden wohl gewinnen, aber sie würden auch dafür bezahlen. Wer sich in der prähistorischen Wildnis bei der Jagd auf das Abendessen den Knöchel bricht, wird vielleicht selbst als Abendessen verwendet.
Es ist schwer zu sagen, wie lange Lieberman an diesem Problem hängengeblieben wäre, wenn ihn nicht letztlich sein eigener Hund auf die Lösung gebracht hätte. An einem Sommernachmittag brach Lieberman mit Vashti, seinem Bordercollie-Mischling, zu einem Acht-Kilometer-Lauf um den Fresh Pond auf. Es war heiß, und nach einigen Kilometern ließ sich Vashti im Schatten eines Baumes nieder und weigerte sich, weiterzugehen. Lieberman wurde ungeduldig; ja, es war ein bisschen warm, aber so schlimm war das doch nicht …
Lieberman wartete, bis sein hechelnder Hund sich genügend
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