Born to Run: Ein vergessenes Volk und das Geheimnis der besten und glücklichsten Läufer der Welt (German Edition)
Tieres vor, während man die Spur betrachtet, und vollzieht diese Bewegungen dann im eigenen Körper nach. Die Konzentration ist so intensiv, dass man in einen tranceartigen Zustand verfällt. Das ist ziemlich gefährlich, weil man für die Signale des eigenen Körpers unempfindlich wird und möglicherweise solange weiterdrängt, bis man zusammenbricht.«
Bildliche Vorstellungskraft … Empathie … abstraktes und auf die Zukunft gerichtetes Denken: Ist das nicht, von der Gefahr des Zusammenbruchs einmal abgesehen, genau das geistige Rüstzeug, das wir heutzutage in der Wissenschaft, der Medizin und in den schöpferischen Künsten einsetzen? »Wenn man eine Spur verfolgt, stellt man im Kopf Kausalverbindungen her, weil man ja nicht selbst erlebte, was das Tier tat«, erkannte Louis. »Das ist das Wesen der Physik.« Die ersten menschlichen Jäger hatten sich mit der spekulativen Jagd über das bloße Verbinden einzelner Punkte hinausentwickelt. Sie verbanden jetzt Punkte, die nur in ihrem eigenen Denken existierten.
Vier der abtrünnigen Buschleute -!Nate,!Nam!kabe, Kayate und Boro/xao – weckten Louis eines Morgens noch vor Sonnenaufgang, um ihn zu einer ganz besonderen Jagd einzuladen. Iss nichts zum Frühstück und trink so viel Wasser, wie du nur kannst, instruierten sie ihn. Louis trank einen Becher Kaffee, griff zu seinen Stiefeln und folgte den Jägern, die in die dunkle Savanne hinausmarschierten. Die Sonne stieg am Himmel empor, bis sie glühend heiß über ihren Köpfen stand, aber die Jäger eilten weiter. Schließlich, nachdem sie etwa 30 Kilometer zurückgelegt hatten, entdeckten sie eine Gruppe Kudus – eine besonders wendige Antilopenart. In diesem Augenblick begannen die Buschleute zu laufen.
Louis blieb irritiert stehen. Er kannte die übliche Jagdmethode der Buschleute, wenn sie mit Pfeil und Bogen arbeiteten: Man legt sich auf den Boden, kriecht an die Beute heran, bis man in Reichweite ist, und schießt den Pfeil ab. Was zum Teufel sollte dann das hier? Er hatte ein paar Geschichten über Ausdauerjagd gehört, hatte sie aber irgendwo zwischen Zufall und Lüge eingeordnet: Entweder hatte sich das Tier auf der Flucht bei einem Sturz das Genick gebrochen, oder die Geschichte war einfach nur erfunden. Dass diese Jungs auch nur eines der Kudus zu Fuß erlegten, war ausgeschlossen. Ausgeschlossen. Aber je öfter er »ausgeschlossen« sagte, desto weiter waren die Buschleute weg, also ließ Louis das Denken sein und fing an zu laufen.
»So machen wir das«, sagte!Nate, als ein heftig schnaufender Louis zur Gruppe aufschloss. Die vier Jäger liefen zügig, aber ohne besondere Anstrengung hinter den hüpfenden Kudus her. Sobald die Tiere in einem Akaziengehölz Zuflucht suchten, löste sich einer der Jäger von der Gruppe und trieb die Kudus in die pralle Sonne zurück. Die Herde zerstreute sich, fand wieder zusammen, löste sich erneut auf, aber die vier Buschleute liefen hinter einem bestimmten Kudu her, machten seine Richtungsänderungen mit, trennten es von der Gruppe, wenn es sich dort einreihen wollte, und scheuchten es von den Bäumen weg, wann immer es sich dort auszuruhen versuchte. Wenn sie Zweifel hatten, welches Tier sie nun verfolgen sollten, ließen sie sich zu Boden fallen, prüften die Spuren und bestimmten das Zielobjekt neu.
Louis schnaufte hinter der Jägergruppe her und sah zu seiner Überraschung, dass!Nate, der kräftigste und geschickteste Jäger in der Gruppe der abtrünnigen Buschleute, an seiner Seite hinter den anderen zurückblieb. Im Gegensatz zu den anderen Jägern trug!Nate nicht einmal eine Trinkflasche. Nach einer fast 90-minütigen Verfolgung entdeckte Louis den Grund dafür: Als einer der älteren Jäger müde wurde und aus dem Rennen ausstieg, gab er seine Flasche an!Nate weiter.!Nate trank sie leer und tauschte sie später dann, als ein zweiter Läufer ausschied, gegen eine halbvolle ein.
Louis taumelte weiter hinterdrein und war entschlossen, die Jagd bis zum Ende durchzustehen. Er bereute bitterlich, dass er sich für die schweren Buschstiefel entschieden hatte. Das traditionelle Schuhwerk der Buschleute waren leichte Mokassins aus Giraffenleder, und jetzt trugen sie dünne, leichte Halbschuhe, in denen die Füße beim Laufen gut gekühlt wurden. Louis fühlte sich genau so, wie das Kudu aussah. Er sah, dass es wie ein Betrunkener schwankte … die Vorderläufe knickten etwas ein, wurden wieder durchgestreckt … das Tier erholte sich wieder und hüpfte davon
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