Born to Run: Ein vergessenes Volk und das Geheimnis der besten und glücklichsten Läufer der Welt (German Edition)
an, um Spuren zu untersuchen. Sie konnten jederzeit blitzschnell umschalten und einen Sprint einschieben, wussten aber auch, wie sie danach traben mussten, um sich beim Laufen wieder zu erholen. Das mussten sie auch, denn eine Ausdauerjagd war wie ein Rennen, bei dem man an der Startlinie noch nicht wusste, ob es ein Halbmarathon-, ein Marathon- oder ein Ultramarathonlauf werden würde. Louis entwickelte mit der Zeit einen Laufstil, der dem glich, was andere Menschen beim Spazierengehen praktizierten. Er lernte, sich zu entspannen und seine Beine in einen raschen, mühelosen Trab zu versetzen, in eine Art Grundbewegung, die er den ganzen Tag durchhalten konnte und die ihm genug Reserven beließ, um jederzeit beschleunigen zu können, wenn es nötig war.
Auch seine Ernährungsweise änderte sich. Als Jäger und Sammler hat man niemals Feierabend. Nach einem anstrengenden, mit dem Sammeln von Yamswurzeln verbrachten Tag ist man vielleicht schon auf dem Rückweg zum Lagerplatz, aber wenn plötzlich frisches Wild auftaucht, lässt man alles fallen und jagt. Also musste Louis lernen, tagsüber nur leichte Kost zu sich zu nehmen, anstatt sich den Bauch mit großen Mahlzeiten zu füllen, immer darauf zu achten, dass er nicht durstig wurde, und jeden Tag so anzugehen, als nehme er an einem Rennen teil, das bereits gestartet worden war.
Die Kalahari-Sommer gingen in den kühleren Winter über, aber die Jagd wurde fortgesetzt. Es sollte sich herausstellen, dass das Utah-Harvard-Team bei der Theorie vom Laufenden Menschen in einem Punkt falsch lag: Die Ausdauerjäger waren nicht auf mörderische Hitze angewiesen, weil die einfallsreichen Buschleute verschiedene Methoden entwickelt hatten, mit denen sie das Wild bei jedem Wetter zur Strecke bringen konnten. Während der Regenzeit überhitzten die winzige Ducker-Antilope wie auch der mit lanzenartigen Hörnern ausgestattete Spießbock, weil der feuchte Sand ihre Hufe spreizte und einen kräftigeren Abdruck verlangte. Die 180 Kilogramm schwere Rote Kuhantilope fühlt sich in einer mit hüfthohem Gras bewachsenen Savanne wie zu Hause, aber wenn der Boden in der trockenen Winterzeit ausdörrt, ist sie schutzlos und verwundbar. Bei Vollmond sind die Antilopen durchgehend nachtaktiv, und bei Tagesanbruch werden sie dann müde. Im Frühjahr wiederum sind sie oft von Durchfall geschwächt, weil sie sich an frischen Blättern gütlich tun.
Als Louis schließlich soweit war, dass er aus dem Buschland nach Hause zurückkehren und dort The Art of Tracking: The Origin of Science schreiben wollte, war er an Läufe von epischer Länge so gewöhnt, dass er sie nahezu als Selbstverständlichkeit betrachtete. In seinem Buch erwähnt er das Laufen kaum, konzentriert sich eher auf die geistigen Anforderungen, die mit der Jagd verbunden sind, weniger auf die physischen Aspekte. Erst als ihm ein Exemplar von Nature in die Hand fiel, erkannte er die ganze Bedeutung dessen, was er dort draußen in der Kalahari-Wüste erlebt hatte, griff zum Telefonhörer und rief in Utah an.
»Wollen Sie wissen, warum die Leute Marathons laufen?«, fragte er Dr. Bramble. Weil das Laufen tief in unserer kollektiven Vorstellungskraft verankert ist, und unsere Vorstellungskraft wurzelt im Laufen. Sprache, Kunst, Wissenschaft, Spaceshuttles und intravasale Gefäßchirurgie:
Das alles wurzelte in unserer Fähigkeit zu laufen. Das Laufen war die Supermacht, die uns zu Menschen machte – und das bedeutet: Es ist eine Supermacht, über die alle Menschen verfügen.
»Warum ist es dann so vielen Menschen verhasst?«, fragte ich Dr. Bramble, als er die Geschichte von Louis Liebenberg und den Buschleuten zu Ende erzählt hatte. »Wenn wir alle zum Laufen geboren sind, sollten wir dann nicht alle unsere Freude daran haben?«
Dr. Bramble leitete seine Antwort mit einem Rätsel ein. »Das ist ein faszinierendes Thema«, sagte er. »Wir sahen uns die Ergebnisse des New York City Marathons von 2004 an und verglichen die Zeiten nach Altersgruppen. Dabei stellten wir fest, dass Läufer ab einem Alter von neunzehn Jahren jedes Jahr schneller werden, bis sie mit siebenundzwanzig dann ihren Leistungsgipfel erreichen. Ab siebenundzwanzig werden sie wieder langsamer. Und hier kommt die Frage: Wie alt sind wir, wenn wir wieder genauso schnell sind wie damals mit neunzehn Jahren?«
Na gut. Ich schlug eine neue Seite in meinem Notizbuch auf und schrieb die Zahlen hastig nieder. Es dauert acht Jahre, bis man mit 27 seine persönliche
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