Born to Run: Ein vergessenes Volk und das Geheimnis der besten und glücklichsten Läufer der Welt (German Edition)
gleichberechtigter Jäger besteht heute noch bei den Mbuti-Pygmäen im Kongo, bei denen Ehepaare gemeinsam, Seite an Seite, das Riesenwaldschwein mit Netzen jagen. »Die Mütter sind wirklich in der Lage, während der Jagd ein Kind zur Welt zu bringen und sich noch am selben Morgen wieder unter die Jäger einzureihen«, hielt der Anthropologe Colin Turnbull fest, der jahrelang bei den Mbuti lebte, »deshalb sehen sie auch keinen Grund, warum sie nicht weiterhin im vollen Umfang an der Jagd teilnehmen sollten.«
Dr. Brambles Bild von der Vergangenheit nahm klare Formen und Farben an. Ich sah eine Gruppe von Jägern – Jung und Alt, Männer und Frauen – unermüdlich durch das Grasland laufen. Die Frauen laufen vorne und führen die Gruppe zu neuen Pfaden, die sie bei der Nahrungssuche entdeckt haben, und die alten Männer sind dicht dahinter, suchen den Boden nach Spuren ab und denken sich in einen Kudu-Kopf hinein, der ihnen knapp einen Kilometer voraus ist. Unmittelbar hinter den Älteren sind die Teenager, die begierig jeden Hinweis aufnehmen. Die körperlichsten Stärksten halten sich noch zurück. Die 20- bis 30-jährigen Männer, die stärksten Läufer und Jäger, behalten die Fährtenleser im Auge und schonen ihre Kräfte für den tödlichen Angriff. Und wer bildet den Schluss? Die Kami Semicks der Savanne, die ihre Kinder und Enkel bei sich tragen.
Was sprach denn sonst noch für uns? Nichts, nur die Fähigkeit, wie die Verrückten zu laufen und zusammenzuhalten. Die Menschen gehören zu den geselligsten und kooperativsten Primaten. Unsere Solidarität war unser einziger Schutz in einer Welt voller Reißzähne, und es gibt keinen Grund für die Annahme, dass wir ausgerechnet vor unserer schwierigsten Aufgabe, der Jagd auf Nahrung, auseinandergingen. Ich erinnerte mich an das, was die Seri-Indianer zu Scott Carrier gesagt hatten, nachdem die Zeit der Ausdauerjagden für sie endgültig vorbei war. »Früher war es besser«, klagte ein Seri-Ältester. »Wir handelten als Familie. Die ganze Gemeinschaft war eine Familie. Wir teilten alles und arbeiteten zusammen, aber heute gibt es ständig Streit und Zank, und jeder bleibt für sich.«
Das Laufen machte die Seri nicht nur zu einem Volk. Es machte sie außerdem zu einem besseren Volk – wie Coach Joe Vigil später auch bei seinen eigenen Athleten feststellen sollte.
»Aber es gibt noch ein Problem«, sagte Dr. Bramble. Er tippte sich an die Stirn. »Es sitzt hier oben.« Unsere größte Begabung, so erklärte er, schuf auch das Ungeheuer, das uns vernichten könnte. »Im Unterschied zu jedem anderen Organismus, den die Evolution hervorgebracht hat, besteht beim Menschen ein Konflikt zwischen Geist und Körper: Wir haben einen Körper, der auf Leistungsfähigkeit ausgelegt ist, und einen Verstand, der nach Effizienz strebt.« Unser Überleben hängt von unserer Ausdauer ab, aber man sollte nicht vergessen: Im Zentrum der Ausdauerfähigkeit steht die Erhaltung von Energie, und dafür ist das Gehirn zuständig. »Das Gehirn ist ein Schnäppchenjäger, deshalb nutzen einige Menschen ihre genetisch bedingte Laufbegabung, andere dagegen nicht.«
Millionen Jahre lebten wir in einer Welt ohne Polizisten, Taxis oder Pizzaservice. Wir verließen uns auf unsere Beine, die für körperliche Unversehrtheit, Nahrung und Fortbewegung zuständig waren, und man konnte nicht unbedingt damit rechnen, dass eine Tätigkeit beendet war, bevor die nächste begann. Man sehe sich nur!Nates wilde Jagd mit Louis an.!Nate plante mit Sicherheit keinen schnellen Zehn-Kilometer-Lauf unmittelbar nach einem halbtägigen Streifzug und einer Hochgeschwindigkeitsjagd, aber er mobilisierte dennoch die Reserveenergien, die Louis das Leben retteten. Noch konnten seine Vorfahren jemals sicher sein, dass sie nicht selbst unmittelbar nach einer erfolgreichen Jagd zur Beute werden würden. Die Antilope, die sie seit Tagesanbruch gehetzt hatten, konnte stärkere Tiere anlocken, was wiederum die Jäger nötigen könnte, das Mittagessen liegenzulassen und um ihr Leben zu laufen. Die einzige Überlebenschance bestand darin, eine Reserve im Tank zu lassen – und hier kommt das Gehirn ins Spiel.
»Das Gehirn denkt unablässig an Kosteneinsparungen, daran, wie man für weniger mehr bekommt, Energie einlagert und für den Notfall bereithält«, erklärte Bramble. »Wir haben diese elegante Maschine, und sie wird von einem Piloten gesteuert, der denkt: ›Okay, wie kann ich das Baby ohne Treibstoff in
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