Born to Run: Ein vergessenes Volk und das Geheimnis der besten und glücklichsten Läufer der Welt (German Edition)
Caballo. »Der Bürgermeister feuert um Punkt sieben los.«
Caballo und ich griffen zu unserer Ausrüstung – in meinem Fall war das ein Trinkrucksack, der noch mit Gels und PowerBars beladen war, Caballo nahm eine Wasserflasche und einen winzigen Pinole-Beutel mit – und liefen wieder bergab. Noch 15 Minuten. Wir bogen um die Ecke, nahmen Kurs auf Titos Restaurant und stellten fest, dass sich das Straßenfest bereits zu einem Mini-Mardi-Gras weiterentwickelt hatte. Luis und Ted wirbelten alte Frauen über die Tanzfläche und wehrten nebenbei Luis’ Vater ab, der immer wieder ins Geschehen eingreifen wollte. Scott und Bob Francis sangen und klatschten zu den Mariachi-Melodien, so gut sie konnten. Die Tarahumara von Urique hatten ihre eigene Percussion-Gruppe eingerichtet und schlugen mit ihren Palia-Stöcken auf dem Gehweg den Takt.
Caballo war begeistert. Er drängte sich in die Menge und begann einen Muhammad-Ali-Shuffle, hüpfte und winkte und hieb mit den Fäusten in die Luft. Die Menge schrie vor Begeisterung. Mamá Tita warf ihm Kusshände zu.
»Ándale! Wir werden den ganzen Tag tanzen!«, brüllte Caballo durch seine zum Trichter geformten Hände. »Aber nur, wenn niemand stirbt. Nehmt euch dort draußen in Acht!« Er wandte sich den Mariachis zu und fuhr sich dabei mit dem Finger über die Kehle. Schluss mit der Musik. Es geht los.
Caballo und der Bürgermeister bugsierten die Tänzer von der Straße und winkten die Läufer zur Startlinie. Wir drängten uns zusammen und bildeten einen wilden menschlichen Flickenteppich aus nicht zusammenpassenden Gesichtern, Körpern und Kleidern. Die Tarahumara von Urique trugen ihre Shorts und Laufschuhe und hatten nach wie vor ihre Palias bei sich. Scott zog sein Hemd aus. Arnulfo und Silvino hatten die hellen Blusen angezogen, die sie eigens für das Rennen mitgebracht hatten, und drängten sich neben Scott. Die Jäger ließen den Hirsch nicht eine Sekunde lang aus den Augen. In stillschweigendem Einvernehmen suchten wir uns alle eine imaginäre Linie im brüchigen Asphalt und stellten uns dort auf.
Ich hatte ein Engegefühl in der Brust. Eric arbeitete sich zu mir durch und stellte sich neben mich. »Hör mal, ich habe schlechte Neuigkeiten«, sagte er. »Du wirst nicht gewinnen. Und du wirst den ganzen Tag dort draußen verbringen, egal wie gut du heute bist. Also könntest du dich genauso gut entspannen, dir Zeit lassen und das Ganze genießen. Denk dran – wenn es sich wie Arbeit anfühlt, dann arbeitest du zu hart.«
»Und dann werde ich sie überrumpeln«, krächzte ich, »und angreifen.«
»Keine Angriffe!«, warnte mich Eric, der nicht wollte, dass mir so etwas auch nur scherzhaft in den Sinn kam. »Da draußen könnte es heute achtunddreißig Grad heiß werden. Deine Aufgabe besteht darin, auf eigenen Beinen ins Ziel zu kommen.«
Mamá Tita ging von einem Läufer zum anderen, sie hatte feuchte Augen, als sie unsere Hände drückte. »Ten cuidado, cariño«, mahnte sie. Sei vorsichtig, Liebling.
»Diez! … Nueve! …«
Der Bürgermeister gab beim Herunterzählen den Ton an.
»Ocho! … Siete! …«
»Wo sind die Kids?«, schrie Caballo.
Ich sah mich um. Jenn und Billy waren nirgends zu sehen.
»Lass ihn anhalten!«, schrie ich zurück.
Caballo schüttelte den Kopf. Er wandte sich ab und nahm die Starthaltung ein. Auf diesen Augenblick hatte er jahrelang gewartet, er hatte sein Leben dafür riskiert. Das schob er für niemanden auf.
»¡BRUJITA!« Die Soldaten zeigten nach hinten.
Jenn und Billy kamen den Berg herunter, als die Menge bei »Cuatro« angelangt war. Billy trug Surferhosen und war ohne Hemd, Jenn hatte enge schwarze Shorts und einen schwarzen Jogging-BH gewählt, ihre Haare waren zu zwei festen Pippi-Langstrumpf-Zöpfen geflochten. Von ihrem militärischen Fanclub abgelenkt, warf Jenn den Beutel mit ihrem Essen und den Ersatzsocken auf die falsche Straßenseite und verblüffte damit die Zuschauer, die auszuweichen versuchten, als der Vorrat in Kniehöhe auf sie zuflog – und dann in der Menge verschwand. Ich rannte hinüber, griff mir das Behältnis und legte es auf dem Tisch der Versorgungsstation ab – genau in dem Augenblick, in dem der Bürgermeister den Startschuss abfeuerte.
BUMM!
Scott hüpfte und schrie, Jenn stieß ein Wolfsgeheul aus, Caballo johlte. Die Tarahumara liefen einfach los. Das Team aus Urique legte in geschlossener Formation einen Blitzstart hin und verschwand auf der unbefestigten Straße im
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