Born to Run: Ein vergessenes Volk und das Geheimnis der besten und glücklichsten Läufer der Welt (German Edition)
Zu Hause mochten sie friedliebende Menschen sein, aber wenn es darum ging, sich bei einem Rennen durchzusetzen, kämpften sie vom Start bis ins Ziel durchaus mit harten Bandagen.
»Ich sage es ungern, aber Jenn wird eingehen«, sagte Luis zu Billy, als sie Jenns dritten Ausreißversuch mitansahen. Sie hatten bei einem 80-Kilometer-Rennen erst fünf Kilometer hinter sich, und sie lieferte sich bereits kräftezehrende Duelle mit einer fünfköpfigen Tarahumara-Verfolgergruppe. »So läuft man nicht, wenn man ins Ziel kommen will.«
»Irgendwie schafft sie’s immer«, antwortete Billy.
»Aber nicht auf dieser Strecke«, sagte Luis. »Und nicht gegen diese Jungs.«
Dank Caballos planerischem Genie sollten wir alle die Schlacht in Echtzeit erleben. Unser Organisator hatte sich eine Y-förmige Rennstrecke ausgedacht, und Start und Ziel lagen genau in der Mitte. Auf diese Weise würden die Dorfbewohner die Läufer auf dem Hin- und Rückweg mehrere Male erleben, und die Läufer würden immer genau wissen, wie groß der Rückstand auf die Führenden war. Diese Y-Form hatte einen weiteren, unerwarteten Vorteil: Bereits in dieser Anfangsphase hatte Caballo allen Grund, den Urique-Tarahumara gründlich zu misstrauen.
Caballo lag etwa 400 Meter zurück und hatte Scott und die Hirschjäger genau im Blick, als sie am Berg jenseits des Flusses zu den Urique-Tarahumara aufschlossen. Als diese ihm dann nach dem ersten Wendepunkt wieder entgegenkamen, war Caballo verblüfft: Auf einer Strecke von nur sechseinhalb Kilometern hatten die Lokalmatadoren einen Vorsprung von vier Minuten herausgelaufen. Sie hatten nicht nur die beiden besten Tarahumara-Läufer ihrer Generation, sondern auch noch den größten Bergläufer in der Geschichte des modernen Ultralangstreckenlaufs abgehängt.
»Aus-ge-schlossen! VERDAMMT!«, knurrte Caballo, der zu diesem Zeitpunkt in einer Verfolgergruppe lief, der auch noch Barfuß-Ted, Eric und Manuel Luna angehörten. Als sie den Acht-Kilometer-Wendepunkt in der winzigen Tarahumara-Siedlung Guadalupe Coronado erreichten, stellten Caballo und Manuel den Tarahumara-Zuschauern ein paar Fragen. Schon bald wussten sie, was da vor sich ging: Die Urique-Tarahumara benutzten Nebenwege und kürzten damit den Kurs ab. Caballo empfand eher Mitleid als Zorn. Er begriff: Die Urique-Tarahumara hatten ihren alten Laufstil eingebüßt – und mit ihm auch ihr Selbstvertrauen. Sie waren keine Fußläufer mehr. Das waren nur noch Burschen, die verzweifelt versuchten, mit den lebenden Schatten ihres früheren Ichs mitzuhalten.
Caballo verzieh ihnen als Freund, aber nicht als Renndirektor. Er fällte sein Urteil: Die Urique-Tarahumara wurden disqualifiziert.
Ich erlebte meinen eigenen Schock, als ich den Fluss erreichte. In der Dunkelheit hatte ich mich so stark auf das Grundsätzliche konzentriert und war immer wieder meine innere Checkliste durchgegangen (Knie beugen … Vogelschritte … keine Spur hinterlassen), dass mich, als ich durch das knietiefe Wasser watete, plötzlich die Erkenntnis traf: Ich war jetzt drei Kilometer weit gelaufen, und es fühlte sich wie nichts an. Besser als nichts – ich fühlte mich leicht und unbeschwert, sogar noch beschwingter und energiegeladener als vor dem Start.
»Weiter so, Oso!«, rief Bob Francis von der anderen Seite herüber. »Kleiner Hügel voraus. Kein Grund zur Sorge.«
Ich taumelte aus dem Wasser und die Sanddüne hinauf, und meine Hoffnung wuchs mit jedem Schritt. Ja, ich hatte noch 77 Kilometer vor mir, aber so wie es jetzt lief, brachte ich vielleicht schon 20 hinter mich, noch bevor ich mich ernsthaft anstrengen musste. Ich ging den Bergpfad genau in dem Moment an, in dem die Sonne über den Canyonrand lugte. Augenblicklich wurde alles um mich herum heller: das glitzernde Band des Flusses, der grün schimmernde Wald, die Korallenschlange, die da eingerollt zu meinen Füßen lag …
Ich schrie auf, machte einen Satz vom Pfad weg, rutschte den steilen Hang hinunter und griff nach kleinen Büscheln, um den Sturz aufzuhalten. Weiter oben sah ich die Schlange, ruhig, eingerollt, zum Zuschlagen bereit. Kletterte ich hier wieder hoch, riskierte ich einen tödlichen Biss. Kletterte ich zum Fluss hinunter, konnte ich über eine Felskante abstürzen. Der einzige Ausweg lag im Seitwärtsklettern, bei dem ich mich von einem Pflanzenhandgriff zum nächsten vorarbeitete.
Der erste Busch hielt stand, der nächste ebenso. Nach etwa drei Metern kletterte ich vorsichtig auf den
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