Born to Run: Ein vergessenes Volk und das Geheimnis der besten und glücklichsten Läufer der Welt (German Edition)
mehr unterscheiden – sie waren zwei feurige Silhouetten, die sich im gleichen Rhythmus und mit der gleichen Anmut bewegten.
»Ich hab’s im Kasten!«, sagte Luis und ließ sich zurückfallen, um mir das Bild in seiner Digitalkamera zu zeigen. Er war vorausgesprintet und hatte sich genau rechtzeitig umgewandt, um all das, was ich in den letzten beiden Jahren über das Laufen gelernt hatte, in seinem Bild einzufangen. Es ging dabei weniger um Arnulfos und Scotts vergleichbare Form, sondern mehr um ihr vergleichbares Lächeln. Beide lächelten aus reiner Freude an der Bewegung, wie Delfine, die durch die Wellen schossen. »Dieses Bild wird mir die Tränen in die Augen treiben, wenn ich nach Hause zurückkomme«, sagte Luis. »Das ist, als hätte man Babe Ruth und Mickey Mantle im selben Schnappschuss.« Sollte Arnulfo im Vorteil sein, würde das nicht am Laufstil oder an der inneren Einstellung liegen.
Aber ich hatte noch einen weiteren Grund, mein Geld auf Scott zu setzen. Bei der Tour nach Urique hielt er sich auf den letzten und härtesten Kilometern bei mir, am Schluss der Gruppe, und ich fragte mich, warum. Er hatte den ganzen weiten Weg gemacht, um die besten Läufer der Welt zu sehen, warum verschwendete er dann seine Zeit mit einem der schlechtesten? Ärgerte er sich nicht, weil ich alle anderen aufhielt? Der siebenstündige Abstieg an jenem Berg beantwortete schließlich meine Fragen.
Scott hatte sein ganzes Leben lang das gelebt, was Coach Joe Vigil bei seinen Gedanken zum menschlichen Charakter empfand und Dr. Bramble mit seinen anthropologischen Modellen mutmaßte. Der wahre Grund für Rennen, dachte er, liegt weniger im Bestreben, die anderen zu besiegen, sondern darin, die anderen zu begleiten . Scott lernte das, noch bevor er eine Wahl hatte, schon damals, als er in den Wäldern von Minnesota hinter Dusty und seinen Freunden herlief. Er war kein guter Läufer und hatte keinen Grund, anzunehmen, dass sich das jemals ändern würde, aber die Freude, die ihm das Laufen bereitete, entstand aus der Freude, mit seiner eigenen Kraft zur Meute beizutragen. Andere Läufer versuchen die Müdigkeit mit lärmigen iPods oder der Vorstellung eines jubelnden Publikums im Olympiastadion zu überwinden, aber Scott hatte eine einfachere Methode: Es ist leicht, von sich selbst abzusehen, wenn man an jemand anderen denkt. 2
Deshalb wetten die Tarahumara vor einem Ballspielwettlauf wie verrückt. Das macht sie bei dieser Anstrengung zu gleichberechtigten Partnern und lässt die Läufer wissen, dass sie alle zusammengehören. In diesem Sinn betrachten die Hopi das Laufen als eine Form des Gebets. Sie bieten jeden Schritt als Opfergabe für einen geliebten Menschen dar und bitten den Großen Geist im Gegenzug, ihre Kraft durch einen Teil seiner eigenen zu ergänzen. Wenn man das wusste, war es auch kein Rätsel mehr, dass Arnulfo kein Interesse an Rennen außerhalb der Canyons hatte und Silvino dies kein zweites Mal versuchen würde: Wo lag denn der Sinn, wenn sie nicht für ihr Volk liefen? Scott, der immer an seine kranke Mutter denken musste, war noch ein Teenager, als er diese Verbindung von Anteilnahme und Wettkampfteilnahme tief verinnerlichte.
Den Tarahumara gab diese Tradition Kraft, das verstand ich, aber Scott bezog seine Kraft aus jeder Art von Lauftradition. Er war Archivar und Erneuerer zugleich, ein alles in sich aufnehmender Student, der über alles mit der gleichen Ernsthaftigkeit nachdachte: über die Lauflegenden der Navajo, der Kalahari-Buschleute und der Marathonmönche vom Hiei-Berg ebenso wie über aerobe Niveaus, Laktatschwellen und die optimale Nutzung aller drei Arten von Muskelfasern (nicht zwei, wie die meisten Läufer glauben).
Arnulfo trat nicht gegen einen schnellen Amerikaner an. Er würde mit dem weltweit einzigen Tarahumara des 21. Jahrhunderts um die Wette laufen.
Während ich mit dem Ladeninhaber noch die Chancen der Favoriten erörterte, sah ich Arnulfo vorübergehen. Ich schnappte mir ein paar Eis-am-Stiel, um mich für die süßen Limetten zu revanchieren, die er mir in seinem Haus serviert hatte, dann suchten wir uns gemeinsam ein schattiges Plätzchen zum Ausruhen. Ich sah Manuel Luna unter einem Baum sitzen, aber er wirkte so allein und gedankenverloren, dass ich der Ansicht war, wir sollten ihn nicht stören. Der barfüßige Affe sah das jedoch anders.
»MANUEL!«, rief Barfuß-Ted über die Straße hinweg.
Manuels Kopf ging nach oben.
»Amigo, ich freue mich sehr, dich zu
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