Born to Run: Ein vergessenes Volk und das Geheimnis der besten und glücklichsten Läufer der Welt (German Edition)
schattenhaften frühen Morgengrauen. Caballo hatte uns gewarnt, dass die Tarahumara vom Start weg ein scharfes Tempo vorlegen würden, aber das hier war einfach nur grausam. Scott machte sich an die Verfolgung, und Arnulfo und Silvino hefteten sich an seine Fersen. Ich trabte langsam dahin und ließ die Meute vorbei, bis ich das Schlusslicht war. Etwas Gesellschaft wäre großartig, aber zu diesem Zeitpunkt fühlte ich mich allein sicherer. Der schlimmste Fehler, den ich machen könnte, wäre, mich nach und nach in das Renntempo eines anderen hineinziehen zu lassen.
Der erste, etwa drei Kilometer lange Streckenabschnitt war flach und führte auf der unbefestigten Straße aus dem Ort hinaus und am Fluss entlang. Die Tarahumara aus Urique waren als Erste am Wasser, doch anstatt geradewegs die knapp 50 Meter breite, flache Furt anzugehen, stöberten sie am Ufer herum und drehten Steine um.
Was zum Teufel …?, fragte sich Bob Francis, der mit Luis’ Vater vorausgegangen war, um vom jenseitigen Flussufer aus zu fotografieren. Er beobachtete, wie die Tarahumara Plastiktüten, die sie am Vorabend dort deponiert hatten, unter den Steinen hervorzogen. Sie klemmten ihre Palias unter den Arm, schlüpften mit den Füßen in die Tüten, die sie mit den Handgriffen festzurrten, und schlurften so durch den Fluss. Auf diese Weise demonstrierten sie, was geschieht, wenn eine neue Technik etwas ersetzt, was 10 000 Jahre lang hervorragend funktioniert hat: Die Tarahumara aus Urique humpelten mit diesen selbstgefertigten Watstiefeln voran, weil sie nicht wollten, dass ihre kostbaren, von der Heilsarmee angelieferten Laufschuhe nass wurden.
»Mein Gott«, murmelte Bob, »so etwas habe ich noch nie gesehen.«
Die Urique-Tarahumara stolperten immer noch über die glitschigen Steine hinweg, als Scott den Fluss erreichte. Er rannte sofort ins Wasser, und Arnulfo und Silvino lagen dicht hinter ihm. Die Urique-Tarahumara erreichten die andere Seite, schüttelten die Tüten von den Füßen und stopften sie – für den abermaligen Gebrauch – in ihre Shorts. Sie mühten sich die steile Sanddüne hinauf, und Scott, dessen flinke Beine den Sand aufwirbelten, kam zügig näher. Als die Urique-Tarahumara den bergauf führenden Pfad erreichten, hatten Scott und die beiden Quimare-Männer bereits zu ihnen aufgeschlossen.
Jenn hatte mittlerweile schon ein erstes Problem. Sie, Billy und Luis hatten den Fluss Seite an Seite mit einer Tarahumara-Meute durchquert, doch als Jenn die Sanddüne erklomm, hatte sie ein unangenehmes Gefühl an der rechten Hand. Ultralangstreckenläufer benutzen gern »handhelds«, Wasserflaschen, die zum bequemeren Transport mit Riemen an der Hand befestigt werden. Jenn hatte Billy eine ihrer beiden Handflaschen gegeben und die andere für sich selbst mit Klebeband und einer Mineralwasserflasche zurechtgemacht. Schon beim Erklettern der Düne fühlte sich die Eigenbau-Handflasche klebrig und unangenehm an. Es war eine minimale Unannehmlichkeit, mit der sie aber in jeder Minute der kommenden acht Stunden konfrontiert werden würde. Sollte sie die Flasche behalten? Oder sollte sie abermals das Risiko eingehen, mit nur einem Dutzend Schluck Wasser in der Hand in die Canyons hineinzulaufen?
Jenn biss das Klebeband durch. Sie wusste: Ihre einzige Chance, im Wettkampf mit den Tarahumara zu bestehen, lag darin, aufs Ganze zu gehen. Wenn sie pokerte und verlor, war das völlig in Ordnung. Aber wenn sie das Rennen ihres Lebens nur verlor, weil sie auf Nummer sicher ging, würde sie das ewig bereuen. Jenn warf die Flasche weg und fühlte sich sofort besser. Mutiger obendrein – und das führte zur nächsten riskanten Entscheidung. Sie befanden sich am Fuß der ersten Knochenmühle, eines steilen, fünf Kilometer langen Anstiegs, auf dem es nur wenig Schatten gab. Sobald die Sonne aufging, hatte sie nur noch geringe Chancen, mit den hitzefesten Tarahumara mithalten zu können.
Ach, scheiß drauf, dachte Jenn. Ich werde einfach jetzt schon loslegen, solange es noch kühl ist. Mit fünf schnellen Schritten setzte sie sich etwas vom Feld ab. »Bis später, Jungs«, rief sie über die Schulter zurück.
Die Tarahumara setzten ihr sofort nach. Sebastiano und Herbolisto, die beiden gewitzten Veteranen, platzierten sich unmittelbar vor Jenn, während die drei anderen Tarahumara sie seitwärts einschlossen. Jenn spähte nach einer Lücke, brach aus und forcierte das Tempo. Die Tarahumara reagierten sofort und schlossen sie erneut ein.
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