Born to Run: Ein vergessenes Volk und das Geheimnis der besten und glücklichsten Läufer der Welt (German Edition)
Häuptlinge enthaupteten.
»Rarámuri-Männer wurden wie Wildpferde zusammengetrieben und zur Sklavenarbeit in den Bergwerken gezwungen«, schrieb ein Chronist. Wer sich widersetzte, wurde aufs Schrecklichste misshandelt. Die gefangenen Tarahumara wurden vor ihrem Tod noch gefoltert, um ihnen Informationen abzupressen. Mehr mussten die überlebenden Stammesangehörigen nicht wissen über das, was geschieht, wenn neugierige Fremde zu Besuch kommen.
Die Beziehungen der Tarahumara zum Rest der Welt verschlechterten sich nach diesen Ereignissen nur noch weiter. Kopfjäger im Wilden Westen erhielten 100 Dollar für Apachen-Skalps, aber sie verfielen schon bald auf eine niederträchtige Methode zur Maximierung der Belohnung bei gleichzeitiger Abschaffung des Risikos. Anstatt sich mit Kriegern herumzuschlagen, die sich wehrten, massakrierten sie einfach die friedlichen Tarahumara und nahmen das Geld für ihr Haar, das dem der Apachen glich.
Die guten Menschen wirkten sogar noch tödlicher als die bösen. Jesuiten-Missionare erschienen im Tarahumara-Land, sie trugen Bibeln in Händen und Grippeviren in ihren Lungen. Sie versprachen das ewige Leben, verbreiteten aber den schnellen Tod. Die Tarahumara verfügten über keine Antikörper gegen die Krankheit, deshalb verbreitete sich die Spanische Grippe wie ein Buschfeuer und löschte innerhalb weniger Tage ganze Dörfer aus. Ein Tarahumara-Jäger, der seine Familie während der Jagd auf Wild eine Woche lang nicht sah, fand bei der Rückkehr möglicherweise nur noch Leichen und Schmeißfliegen vor.
Es war kein Wunder, dass das Misstrauen der Tarahumara gegenüber Fremden 400 Jahre lang angehalten und sie hierher geführt hatte, zu einer letzten Zuflucht am Grund der Erde. Es führte auch zu einer messerscharf trennenden Begrifflichkeit für die Beschreibung von Menschen. In der Sprache der Tarahumara gibt es nur zwei Arten von Menschen: Auf der einen Seite stehen die Rarámuri, die vor jeder Art von Ärger davonlaufen, auf der anderen die Chabochis, die den Ärger verursachen. Das ist eine harte Sicht der Dinge, aber angesichts von sechs Leichen, die im Durchschnitt wöchentlich in ihre Canyons geworfen werden, kann man wohl kaum sagen, dass sie falsch liegen.
Was nun Arnulfo anbetraf, so hatte er mit den Limetten seine sozialen Verpflichtungen erfüllt. Er hatte sichergestellt, dass die Reisenden ausgeruht und erfrischt waren, jetzt zog er sich in sich selbst zurück, so wie sein Volk sich in die Canyons zurückzog. Ich könnte den ganzen Tag lang dort sitzenbleiben und ihm mit allen möglichen Fragen zusetzen, die mir in den Sinn kämen. Aber ich würde ihm damit nicht näherkommen.
5
»Ja, Sie müssten schon eine laaange Zeit hier unten leben, bis ihnen Ihre Gegenwart angenehm ist«, hörte ich später an diesem Abend von Ángel Nava López, der die Tarahumara-Schule in Muñerachi leitete, einer Ortschaft, die, von der Quimares-Hütte aus gesehen, ein paar Kilometer flussabwärts lag. »Años y años – viele Jahre. Wie Caballo Blanco.«
»Augenblick mal«, unterbrach ich. »Wie wer?«
Das Weiße Pferd, erklärte Ángel, war ein großer, magerer, kalkweißer Mann, der in seiner eigenen seltsamen Sprache plapperte und ohne Vorankündigung aus den Hügeln auftauchte, er erschien einfach auf dem Pfad und marschierte mit federnden Schritten in die Ansiedlung. Das erste Mal hatte man ihn hier vor zehn Jahren zu sehen bekommen, kurz nach dem Mittagessen an einem heißen Sonntagnachmittag. Die Tarahumara besitzen keine Schriftsprache, von schriftlichen Aufzeichnungen über plötzlich auftauchende merkwürdige menschliche Wesen ganz zu schweigen, aber Ángel war sich bei Tag, Jahr und Seltsamkeit der Begegnung absolut sicher, denn sie war ihm persönlich widerfahren.
Ángel war zu diesem Zeitpunkt im Freien gewesen, er beobachtete die Canyonwände, weil er sehen wollte, wie die Kinder zur Schule zurückkehrten. Seine Schüler schliefen unter der Woche im Ort und stiegen dann am Freitag zu den Behausungen ihrer Familien in den Bergen auf. Am Sonntag kehrten sie wieder zur Schule zurück. Ángel zählte seine Schützlinge bei ihrer Rückkehr gern, deshalb stand er draußen vor der Tür in der heißen Mittagssonne, als zwei Jungen den Berghang herunterhasteten. Die Jungen rannten in höchstem Tempo in den Fluss und durchwateten ihn hektisch, als würden sie von Dämonen gehetzt. Und das, so keuchten sie Ángel zu, als sie das Schulhaus erreichten, war womöglich der
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