Born to Run: Ein vergessenes Volk und das Geheimnis der besten und glücklichsten Läufer der Welt (German Edition)
Fall.
Sie erzählten, sie hätten in den Bergen Ziegen gehütet, als plötzlich eine unheimliche Gestalt zwischen den Bäumen oberhalb ihres Standorts hindurchgehuscht sei. Die Gestalt sehe wie ein Mensch aus, sei aber größer als jeder andere Mensch, den sie bisher gesehen hätten. Sie sei leichenblass und knochig wie ein Toter, und aus dem Schädel würde ein flammenfarbener Haarschopf wachsen. Außerdem sei sie nackt. Für einen riesigen, nackten Leichnam habe die Gestalt auch ziemlich flinke Beine gehabt. Sie war im Gebüsch verschwunden, bevor die beiden Jungen mehr als einen flüchtigen Eindruck gesammelt hatten.
Die Ziegenhirten waren auch gar nicht auf weitere Eindrücke aus gewesen. Sie rannten ins Dorf zurück, so schnell sie konnten, und fragten sich dabei, wen – oder was – sie da gesehen hatten. Nach der Begegnung mit Ángel beruhigten sie sich jedoch allmählich wieder, verschnauften und begriffen schließlich, wer das gewesen war.
»Das war der erste chuhuí, den ich je zu Gesicht bekam«, sagte einer der Jungen.
»Ein Geist?«, fragte Ángel. »Warum glaubst du, dass das ein Geist war?«
Zu diesem Zeitpunkt hatten sich bereits einige Rarámuri-Älteste zu ihnen gesellt, um sich zu vergewissern, was da vor sich ging. Die Jungen wiederholten ihre Geschichte und beschrieben das knochige Erscheinungsbild der Gestalt, ihren wilden Haarschopf und ihren Laufstil auf dem Pfad oberhalb ihres Standorts. Die Ältesten hörten den Jungen zu und rückten ihnen dann den Kopf zurecht. Das Schattenspiel im Canyon konnte jedem einen Streich spielen, deshalb sei es keine Überraschung, dass die Fantasie ein bisschen mit den Jungen durchgegangen sei. Dennoch sollte man ihnen nicht gestatten, die jüngeren Kinder mit wilden Geschichten in Panik zu versetzen.
»Wie viele Beine hatte die Gestalt?«, fragten die Ältesten.
»Zwei.«
»Hat sie euch angespuckt?«
»Nein.«
Nun, da hatte man es schon. »Das war kein Geist«, sagten die Ältesten. »Das war bloß ein arriwará.«
Die Seele eines Toten; ja, das klang sehr viel einleuchtender. Geister waren böse Phantome, die nachts unterwegs waren, auf allen Vieren herumgaloppierten, Schafe töteten und Menschen ins Gesicht spuckten. Die Seelen der Toten hatten jedoch nichts Böses im Sinn und beseitigten nur Spuren. Selbst im Tod waren die Tarahumara vom Ausweichen und Spurenverwischen besessen. Nachdem sie gestorben sind, ziehen ihre Seelen durch die Gegend, weil sie alle Fußabdrücke beseitigen und alle Haarsträhnen wiederbeschaffen wollen, die der verstorbene Körper zurückgelassen hat. Bei einem Tarahumara-Haarschnitt wird das Haar in einer Astgabel straff gespannt und mit einem Messer abgeschnitten, also mussten alle zurückgelassenen Strähnen wieder eingesammelt werden. Sobald die tote Seele alle Spuren ihrer irdischen Existenz beseitigt hat, kann sie zum Leben nach dem Tode übergehen.
»Die Reise dauert drei Tage«, erinnerten die Ältesten die beiden Jungen. »Vier Tage, wenn es eine Frau ist.« Deshalb sieht der Arriwará naturgemäß ein bisschen buschig aus, wenn all das abgeschnittene Haar dem Kopf wieder zugeführt wird; und natürlich wird sich das Geistwesen auch mit höchster Geschwindigkeit fortbewegen, weil für all die vielen Pflichten nur ein langes Wochenende zur Verfügung steht. Tarahumara-Seelen laufen normalerweise so schnell, dass man von ihnen nur einen Staubwirbel in der Landschaft zu sehen bekommt. Selbst im Tode, auch daran erinnerten die Ältesten die Jungen, sind sie immer noch Die Fußläufer.
»Ihr seid am Leben, weil euer Vater ein Reh zu Tode hetzen kann. Er ist am Leben, weil sein Großvater schneller lief als ein Kriegspony der Apachen. So schnell sind wir, wenn wir das Gewicht unserer sapá tragen müssen, unserer körperlichen Existenz. Stellt euch vor, wie ihr dahinfliegt, wenn ihr sie einst abgelegt haben werdet.«
Ángel hörte zu und fragte sich, ob er vielleicht auf eine weitere Möglichkeit hinweisen sollte. Ángel war in Muñerachi eine seltsame Erscheinung, ein Tarahumara und Halbmexikaner, der einige Zeit lang außerhalb des Canyons gelebt und eine mexikanische Schule besucht hatte. Nach wie vor trug er traditionelle Tarahumara-Sandalen und das koyera -Haarband, im Unterschied zu den anderen Ältesten, die ihn umgaben, zog er jedoch seine ausgebleichten Arbeitshosen dem Lendentuch vor. Auch innerlich hatte er sich verändert. Er betete zwar nach wie vor zu den Tarahumara-Göttern, fragte sich aber dennoch,
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