Born to Run: Ein vergessenes Volk und das Geheimnis der besten und glücklichsten Läufer der Welt (German Edition)
ob dieses wilde Wesen dort draußen in der Einöde nicht einfach nur ein Chabochi gewesen war, der den Weg aus der Außenwelt zu ihnen gefunden hatte.
Das war zugegebenermaßen vielleicht noch weiter hergeholt als die Vorstellung von einer dahineilenden Seele. Niemand drang jemals ohne einen sehr guten Grund so weit in die Einsamkeit vor. Vielleicht war das ein Flüchtling, der sich der Strafverfolgung entzog? Ein Mystiker auf der Suche nach Visionen? Ein Goldgräber, dem die Hitze den Verstand geraubt hatte?
Ángel zuckte mit den Schultern. Ein einsamer Chabochi könnte unter jede dieser Kategorien fallen und wäre allemal nicht die erste Person dieser Art, die im Tarahumara-Gebiet auftauchte. Es ist ein Naturgesetz (oder, wenn man zu solchem Denken neigt, ein übernatürliches Phänomen), dass dort, wo Menschen zum Verschwinden neigen, auch seltsame Dinge geschehen. Afrikanische Dschungelgebiete, Inseln im Pazifik, Einöden im Himalaya – überall dort, wo ganze Expeditionen verschwinden, tauchen mit Sicherheit auch rätselhafte Spezies auf, steinerne Götzen, die an Stonehenge erinnern, die flirrenden Schatten von Yetis und uralte japanische Soldaten, die sich nie ergeben haben.
In den Copper Canyons verhält sich das nicht anders, und in gewisser Hinsicht ist es noch erheblich schlimmer. Die beiden Gebirgszüge der Sierra Madre sind der Mittelteil einer Gebirgskette, die praktisch ununterbrochen von Alaska bis nach Patagonien reicht. Ein Desperado mit gutem Orientierungssinn auch in entlegenen Landschaften konnte in Colorado eine Bank ausrauben und in den Copper Canyons eine sichere Zuflucht finden. Dorthin würde er über abgelegene Pässe und öde Bergketten gelangen, und die Entfernung zum nächsten menschlichen Wesen würde nie weniger als 15 Kilometer betragen.
Die Copper Canyons, die beste Zuflucht unter freiem Himmel auf dem ganzen Kontinent, brachte nicht nur bizarre Lebewesen hervor, sondern lockte sie konsequenterweise auch an. Im Lauf der letzten 100 Jahre beherbergte dieses Schluchtensystem nahezu jede Erscheinungsform des Außenseitertums auf dem nordamerikanischen Kontinent: Banditen, Mystiker, Mörder, menschenfressende Jaguare, Krieger der Komantschen, plündernde Apachen, paranoide Goldsucher und Pancho Villas Rebellen entzogen sich durch die Flucht in die Barrancas ihren Verfolgern.
Geronimo zog sich regelmäßig in die Copper Canyons zurück, wenn die US-Kavallerie hinter ihm her war. Genauso hielt es sein Protegé Apache Kid, der sich, so beschrieb es ein Chronist, »wie ein Geist in der Wüste bewegte«. »Er folgte keinem bestimmten Muster. Niemand wusste, wo er als nächstes auftauchen würde. Es war zermürbend, wenn man Viehzucht betrieb oder einen Claim bearbeitete, und jeder Schatten, jedes kleine Geräusch konnte Apache Kid sein, der sich zum tödlichen Angriff bereit machte. Ein geplagter Siedler fand die richtigen Worte: ›Wenn man Apache Kid erst mal zu sehen bekam, war es schon viel zu spät.‹«
Wer sich als Verfolger in den Irrgarten begab, riskierte dabei, den Ausgang nicht mehr zu finden. »Dieses Land bietet einen großartigen Anblick; dort unterwegs zu sein ist die Hölle«, schrieb ein Hauptmann der US-Kavallerie namens John Bourke, nachdem er bei einer weiteren erfolglosen Verfolgung Geronimos in die Copper Canyons hinein knapp mit dem Leben davongekommen war. Schon das Geräusch eines fallenden Kieselsteins erzeugte ein aberwitziges Rundumecho, es wurde nicht schwächer, sondern immer lauter, wechselte von rechts nach links und wanderte schließlich nach oben. Das Rascheln zweier Wacholderzweige ließ eine ganze Kompanie von Kavalleristen die Pistole ziehen, und die Reiter warfen monströs verzerrte Schatten an die Felswände, während sie fieberhaft nach allen Seiten Ausschau hielten.
In den Copper Canyons schien es zu spuken, und diese Vorstellung wurde nicht nur von Echos und einer nervösen Fantasie genährt. Eine Qual konnte so rasch in die nächste umschlagen, dass der Gedanke nahelag, die Barrancas würden von einem zornigen Geist bewacht, der über einen sadistischen Sinn für Humor verfügte. Soldaten freuten sich über die Erleichterung, die ihnen ein paar dunkle Wolken boten, nachdem sie tagelang unter einer erbarmungslosen Sonne dahingezogen waren. Wenige Minuten später wurden sie von einer Flutwelle bedroht, die mit der Wucht von Löschwasser aus einem Feuerwehrschlauch durch die Schlucht brauste, und versuchten verzweifelt, die glitschigen
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