Born to Run: Ein vergessenes Volk und das Geheimnis der besten und glücklichsten Läufer der Welt (German Edition)
seltsamen Leben begegnet war: Auf seine eigene Art suchte Caballo Blanco auch den Kontakt zu mir.
»Okay, Mann«, sagte er. »Aber ich muss ein paar Bohnen essen.«
Er führte mich aus dem Hotel und ging mit mir eine staubige Gasse entlang, bis wir an eine kleine Tür kamen, auf der weder ein Name noch sonst ein Hinweis zu lesen war. Wir stiegen über einen kleinen Jungen hinweg, der auf der Türschwelle mit einem Kätzchen spielte, und standen in einem winzigen Wohnzimmer. Eine alte Frau blickte von einem uralten Gasherd auf, der in einer angrenzenden Nische stand. Sie rührte in einem Topf, in dem ein duftendes Bohnengericht kochte.
»Hola Caballo«, war ihr Gruß.
»¿Cómo está, Mamá?«, erwiderte Caballo Blanco. Wir setzten uns an einen wackligen Holztisch im Wohnzimmer. Er habe »mamás« im ganzen Canyon, sagte er, kleine alte Frauen, die ihm auf seinen langen Vagabundenläufen für ein paar Centavos Bohnen und Tortillas auftischten.
Trotz Mamás Nonchalance sah ich sehr wohl, warum die Tarahumara einen Schrecken bekamen, als Caballo das erste Mal durch ihre Wälder huschte. Fantastische Ausdauerleistungen unter einer erbarmungslosen Sonne haben Caballo ein etwas wildes Aussehen verliehen. Er ist deutlich über 1,80 Meter groß, und seine von Natur aus helle Hautfarbe variiert inzwischen von Rosa auf der Nase bis zu Walnussbraun im Nacken. Er hat so lange Gliedmaßen und ist so mager, dass er wie das Endoskelett eines massigeren Tieres aussieht. Man stecke den Terminator in ein Säurebad, und heraus kommt Caballo Blanco.
Das grelle Licht der Wüste hatte seine Augen zu schmalen Schlitzen werden lassen, die sein Mienenspiel auf zwei Varianten begrenzten: Skepsis oder Belustigung. Was immer ich auch an diesem Abend noch erzählte: Ich war mir nie sicher, ob er das Gehörte für lustig oder für einen großen Haufen Scheiße hielt. Caballo ist sehr konzentriert, wenn er einem seine Aufmerksamkeit zuwendet. Er hört sehr genau hin, wie ein Jäger, der ein Wild verfolgt, und scheint dem Klang der Stimme ebenso viel zu entnehmen wie dem gesprochenen Wort. Seltsamerweise scheint er jedoch überhaupt kein Ohr für Fremdsprachen zu haben – nach mehr als einem Jahrzehnt in Mexiko klang sein Spanisch so miserabel, als würde er die Worte von Karteikarten für die Ausspracheschulung ablesen.
»Was mich an deinem Auftritt gestört hat …«, setzte Caballo an, brach aber plötzlich wieder ab und machte große, hungrige Augen, als Mamá uns ausladende Schüsseln hinstellte, deren Inhalt sie noch mit kleingeschnittenem Koriander, Paprikastückchen und ein paar Spritzern Limettensaft würzte. Den grimmigen Blick im Hotel hatte er mir nicht zugeworfen, weil ich ihm den Weg in die Freiheit verbaut hatte; ich hatte zwischen ihm und seinem Essen gestanden. Caballo war an jenem Morgen zu einer kurzen Wanderung aufgebrochen, die ihn zu einer natürlichen warmen Quelle im Wald führen sollte. Dann entdeckte er jedoch einen kaum wahrnehmbaren Fußpfad durch den Wald, der ihm noch nie zuvor aufgefallen war, und Wanderung und heißes Bad waren vergessen. Er rannte sofort los und blieb stundenlang in Bewegung. Dabei stieß er auf einen Berg und drehte keineswegs um, sondern nahm die 900 Höhenmeter in Angriff, was einer zweimaligen Besteigung des Empire State Buildings entspricht. Schließlich erreichte er einen Pfad, der ihn nach Creel zurückführte, und so wurde aus einem Entspannungsbad ein mörderischer Querfeldeinmarathon. Als ich ihn im Hotel in Beschlag nahm, hatte er seit Sonnenaufgang nichts mehr gegessen und war vor Hunger halb ohnmächtig.
»Ich verlaufe mich immer, nehme dann den direkten, steilen Weg über den Berg, klemme mir dabei die Wasserflasche zwischen die Zähne, und über mir kreisen Bussarde«, sagte er. »Es ist wunderschön.« Eine der ersten und wichtigsten Lehren, die ihm die Tarahumara vermittelten, war die Fähigkeit, jederzeit einen Lauf beginnen zu können, wie ein Wolf, der unverhofft einen Hasen wittert. Für Caballo ist das Laufen die erste Wahl unter den Fortbewegungsmitteln, so wie es das Auto für Vorortbewohner ist. Immer geht er mit federnden Schritten, seine Ausrüstung ist so leicht wie die eines jungsteinzeitlichen Jägers, und wie die Steinzeitjäger macht er sich nur wenige Gedanken, wo – oder wie weit entfernt – sein Weg enden wird.
»Schau«, sagte er und zeigte dabei auf seine uralten Hiking-Shorts und seine zerlatschten Teva-Sandalen, die eigentlich reif für den
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