Born to Run: Ein vergessenes Volk und das Geheimnis der besten und glücklichsten Läufer der Welt (German Edition)
Inhalt ich mit Jodtabletten desinfiziert hatte, und gab sicherheitshalber noch ein paar Tabletten hinzu. Ich war hundemüde, aber im Unterschied zu Lumholtz noch nicht so verzweifelt, dass ich ein Jahr chronischen Durchfall riskiert hätte, der von bakterienverseuchtem Wasser ausgelöst wurde.
Monate später erfuhr ich, dass Iskiate ansonsten unter der Bezeichnung chia fresca bekannt ist – »kühle Chia « . Man mixt ihn, indem man Chia-Samen in Wasser auflöst und ein bisschen Zucker und einen Schuss Limettensaft hinzugibt. Der Nährwert eines Teelöffels voll Chia entspricht einem Smoothie, der aus Lachs, Spinat und menschlichem Wachstumshormon besteht. Diese Samen sind zwar winzig, enthalten aber reichlich Omega-3- und Omega-6-Fettsäuren, Eiweiß, Kalzium, Eisen, Zink, Ballaststoffe und Antioxidantien. Dürfte man auf eine einsame Insel nur ein einziges Nahrungsmittel mitnehmen, wäre Chia mit Sicherheit die beste Wahl, zumindest wenn man an Muskelaufbau und der Senkung des Cholesterinspiegels wie auch des Herzinfarktrisikos interessiert ist. Nach einer mehrmonatigen Chia-Diät könnte man vielleicht sogar nach Hause schwimmen. Chia war einst so geschätzt, dass die Azteken es ihrem König als Geschenk darboten, wenn sie ihm huldigten. Kämpfer der Azteken kauten Chia-Samen, wenn sie in die Schlacht zogen, und die Hopi ernährten sich bei ihren heroischen Läufen von Arizona bis zum Pazifischen Ozean von Chia. Der mexikanische Bundesstaat Chiapas verdankt diesem Samen sogar seinen Namen; in der Liste der Handelsgüter war er einst gleichrangig mit Mais und Bohnen; trotz des Ansehens, das die Pflanze als eine Art flüssiges Gold erscheinen lässt, ist der Anbau von Chia lächerlich einfach. Wer eine Chia-Tonfigur besitzt, ist nur ein paar Schritte von einem eigenen Bestand des Teufelsgetränks entfernt.
Und es ist außerdem ein verdammt schmackhaftes Getränk, wie ich feststellte, als sich das Jod soweit aufgelöst hatte, dass ich ein paar Schlucke riskieren konnte. Das Iskiate schmeckte wie ein Obstpunsch mit einem angenehmen Limetten-Beigeschmack, und das trotz des Arzneiaromas, das von den Jodtabletten ausging. Vielleicht war meine Reaktion auch von der Aufregung beeinflusst, die mit der Suche nach Caballo verbunden war, aber schon nach wenigen Minuten fühlte ich mich fantastisch. Sogar der leichte Kopfschmerz, den ich nach einer auf einem kühlen Lehmboden verbrachten Nacht den ganzen Morgen hindurch gespürt hatte, war verschwunden.
Salvador machte weiter ein enormes Tempo, denn er wollte es noch vor Sonnenuntergang bis zum Canyonrand schaffen. Und wir schafften es auch beinahe. Aber wir hatten immer noch gut zwei Stunden Aufstieg vor uns, als die Sonne verschwand und den Canyon in eine so tiefe Finsternis tauchte, dass ich nur noch verschiedene Schwarztöne unterscheiden konnte. Wir diskutierten kurz, ob wir unsere Schlafsäcke ausrollen und an Ort und Stelle ein Nachtlager aufschlagen sollten, aber bereits vor über einer Stunde waren uns Wasser und Proviant ausgegangen, und die Temperatur fiel unter den Nullpunkt. Wenn wir unseren Weg auf den nächsten gut eineinhalb Kilometern einfach nur erfühlten, würden wir oberhalb des Canyonrandes vielleicht noch so viel Restlicht erwischen, dass wir den Pfad erkennen konnten. Wir entschieden uns für das Wagnis. Ich hasste den Gedanken, auf einem handtuchschmalen Pfad am Rand des Abgrunds eine ganze Nacht lang zu zittern.
Es war bereits so dunkel, dass ich Salvador nur noch anhand seiner Schrittgeräusche folgen konnte. Wie er auf dieser steilen Achterbahn die Wegbiegungen fand, ohne über die Kante zu spazieren, wollte ich eigentlich gar nicht wissen. Mit seiner an hellseherische Fähigkeiten grenzenden Navigation hatte er schon bei der Fahrt durch den Wald meine Zweifel widerlegt, also schuldete ich ihm Schweigen und sorgfältige Aufmerksamkeit für jede seiner Bewegungen und … und …
Augenblick mal. Wo sind die Schrittgeräusche geblieben?
»Salvador?«
Keine Antwort. Scheiße.
»¡Salvador!«
»¡No pases por aqui!«, rief er von irgendwo vor mir. Geh nicht in diese Richtung!
»Gibt es ein Prob…?«
»Calla.« Sei still.
Ich calla te, blieb im Dunkeln stehen und fragte mich, was zum Teufel denn los war. Minuten vergingen. Von Salvador war nicht das Geringste zu hören. »Er kommt zurück«, redete ich mir ein. »Wenn er abgestürzt wäre, hätte er geschrien. Du hättest etwas gehört. Einen Aufprall. Irgendetwas. Aber verdammt noch mal, er
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