Born to Run: Ein vergessenes Volk und das Geheimnis der besten und glücklichsten Läufer der Welt (German Edition)
braucht lange …«
»Bueno.« Ein Ruf kam von irgendwo oberhalb, von der rechten Seite. »Hier ist es gut. Aber geh langsam!« Ich wandte mich in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war, und ging ganz langsam weiter. Ich spürte, dass zu meiner Linken der feste Boden ganz abrupt zu Ende war. Wie nahe Salvador dem Schritt in den Abgrund gekommen war, fragte ich ihn nicht.
Um 10 Uhr abends hatten wir den Canyonrand erreicht und krochen in unsere Schlafsäcke, durchgefroren und hundemüde. Am nächsten Morgen standen wir noch vor Tagesanbruch auf und marschierten im Eiltempo zum Truck zurück. Als die Morgendämmerung begann, fuhren wir schon längst auf dem holprigen, gewundenen Weg, der uns dem Hörensagen nach zum Weißen Pferd bringen sollte.
Wir hielten bei jeder Farm und in jedem kleinen Dorf und fragten nach, ob irgendjemand das Weiße Pferd kenne. Und überall – in dem Dorf Samachique wie auch im Schulhaus von Huisichi – bekamen wir Dasselbe zu hören: Sí, natürlich! Letzte Woche ist er hier durchgekommen … vor ein paar Tagen … gestern … Sie haben ihn knapp verpasst …
Wir kamen zu einer kleinen Ansammlung baufälliger Hütten und hielten an, um etwas zu essen zu kaufen. »Ahhh, ten cuidado con ese«, sagte die alte Frau in einem Verkaufsstand am Straßenrand, als sie mir mit ihren schmalen, zittrigen Händen eine staubbedeckte Packung Kartoffelchips und eine warme Cola reichte. »Seid vorsichtig mit diesem Burschen. Ich habe von diesem Caballo gehört. Er war ein Kampfsportler, der übergeschnappt ist. Ein Mann starb, und er wurde verrückt. Er kann Sie mit bloßen Händen töten. Und«, fügte sie noch hinzu, für den Fall, dass ich das schon wieder vergessen hatte, »er ist übergeschnappt.«
Zuletzt hatte man ihn in dem alten Bergbaustädtchen Creel gesehen. Dort sagte uns eine Frau an einem Taco-Stand, dass sie ihn noch am Morgen beobachtet habe, wie er auf dem Schienenstrang in Richtung Ortsende gegangen sei. Wir folgten der Bahnlinie bis zum Ende und fragten überall nach, bis wir zum allerletzten Gebäude kamen: dem Hotel Casa Pérez. Ich war begeistert und nervös zugleich, als ich hörte, dass er sich derzeit genau dort aufhalten solle.
Vielleicht war es gut, dass ich auf dem Sofa in der Ecke einschlief. Auf diese Weise blieb ich im Schatten verborgen und konnte den einsamen Wanderer in aller Ruhe betrachten – bevor er mich sah und umgehend in die Wildnis zurückstürmte.
7
Glücklicherweise hatte ich es näher zur Tür.
»Hey! Äh, kennst du Ángel?«, stammelte ich, während ich Caballos einzigen Fluchtweg blockierte. »Den Lehrer an der Tarahumara-Schule? Und Esidro in Huisichi? Und, äh, Luna, Miguel Luna …« Ich warf weiter mit Namen um mich, in der Hoffnung, dass er einen davon kannte, bevor er mich gegen die Wand pfefferte und in die hinter dem Hotel gelegenen Hügel entkam. »… Nein, Manuel. Nicht Miguel Luna. Manuel. Sein Sohn sagte, ihr beide wärt Freunde. Marcelino? Kennst du Marcelino?«
Je mehr ich redete, desto finsterer schaute er drein, bis sein Gesichtsausdruck schließlich richtig bedrohlich wirkte. Dann hielt ich den Mund. Ich hatte aus dem »Debakel auf dem Quimare-Anwesen« gelernt. Vielleicht beruhigte er sich wieder, wenn ich schwieg und ihm eine Chance gab, mich in Ruhe zu taxieren. Schweigend stand ich da, während er mich unter der Krempe seines Bauernstrohhuts hervor misstrauisch und spöttisch musterte.
»Ja«, brummte er. »Manuel ist ein Freund. Wer zum Teufel bist du ?«
Ich wusste nicht, was ihn nervös machte, also fing ich mit dem an, was ich nicht war. Ich sei kein Polizist oder DEA-Beamter, sagte ich ihm. Ich sei nur ein Autor und ständig verletzter Läufer, der hinter den Geheimnissen der Tarahumara her sei. Wenn er ein Flüchtling sei, dann sei das seine Sache. Wenn das irgendeine Bedeutung habe, dann höchstens die, dass seine Glaubwürdigkeit erhöht werde: Wer dem Arm des Gesetzes jahrelang entkommen und sich dabei nur auf seine Beine verlassen könne, habe sich ganz gewiss als würdiger Möchtegern-Rarámuri erwiesen. Ich könnte meine Verpflichtungen gegenüber dem Gesetz lange genug zurückstellen, um mir eine Fluchtgeschichte anzuhören, die etwas ganz Besonderes sein musste.
Caballos Gesichtsausdruck blieb finster, aber er versuchte auch nicht, an mir vorbeikommen. Erst später sollte ich feststellen, dass ich außergewöhnliches Glück gehabt hatte, weil ich ihm zu einem seltsamen Zeitpunkt in seinem sehr
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