Born to Run: Ein vergessenes Volk und das Geheimnis der besten und glücklichsten Läufer der Welt (German Edition)
kickte den Ball gegen einen großen Felsen links vom Pfad, berechnete den Abpraller von dieser Bande und war rechtzeitig an Ort und Stelle, um seinen eigenen Pass aufzunehmen. Er fing den Ball im Flug und legte so in wenigen Sekunden auf einer Stecke, die so steinig wie ein Flussbett war, fast 50 Meter zurück.
Ángel schlug mit dem stumpfen Ende eines Beils gegen eine Eisenstange. Das Spiel war zu Ende. Die Kinder gingen in guter Ordnung ins Schulhaus zurück, und die Älteren trugen das Holz für den offenen Kamin der Schule. Nur wenige erwiderten unseren Gruß; viele hatten erst mit dem Beginn ihrer Schulzeit die ersten spanischen Worte gehört. Marcelino trat jedoch aus der Reihe und kam zu uns herüber. Ángel hatte ihm gesagt, was wir vorhatten.
»Qué vayan bien«, sagte Marcelino. Viel Glück auf eurer Reise. »Caballo Blanco es muy norawa de mi papá.«
Norawa? Dieses Wort hatte ich noch nie gehört. »Was hat er gesagt?«, fragte ich Salvador. »Caballo ist eine Legende, die sein Vater kennt? Irgendeine Geschichte, die er erzählt?«
»Nein«, antwortete Salvador. »Norawa bedeutet amigo .«
»Caballo Blanco ist ein guter Freund deines Vaters?!«, fragte ich.
»Sí.« Marcelino nickte, bevor er im Schulhaus verschwand. »Er ist wirklich ein guter Mensch.«
Okay, dachte ich etwas später an jenem Nachmittag. Ángel würde uns vielleicht irreführen, aber der Fackel muss ich vertrauen. Ángel erzählte uns, Caballo sei möglicherweise auf dem Weg ins Städtchen Creel, aber wir müssten uns beeilen: Wenn wir ihn dort nicht erwischten, gebe es keinen Anhaltspunkt dafür, wo er als nächstes auftauchen würde. Das Pferd verschwand häufig monatelang. Niemand wusste, wohin er ging oder wann er zurückkommen würde. Wenn wir ihn also in Creel verpassten, bekämen wir vielleicht keine zweite Chance.
Und Ángel hatte mit Sicherheit in einem Punkt nicht gelogen, wie ich feststellte, weil meine Beine so überraschend kräftig waren: Kurz bevor wir den langen Aufstieg begannen, der uns zum Canyonrand bringen sollte, reichte er mir eine verbeulte Blechtasse. Sie war mit einer undefinierbaren Substanz gefüllt, die mir, so versprach er, helfen würde.
»Das wird Ihnen schmecken«, versicherte er mir.
Ich schaute mir das zunächst genauer an. Die Tasse war mit einem klebrigen Schleim gefüllt, der aussah wie ein Reisbrei ohne Reis, und ich sah eine Menge schwarzgepunkteter Blasen, bei denen ich mir ziemlich sicher war, dass es sich um Froschlaich handelte. Wäre ich irgendwo anders gewesen, hätte ich das für einen Scherz gehalten. Die Masse sah genauso aus, als hätte ein Kind den Abfall aus seinem Aquarium gekratzt, um zu testen, ob es mich zu einer Kostprobe bewegen konnte. Die plausibelste Vermutung war noch, dass es sich hier um irgendeine vergorene Wurzel handelte, der Flusswasser zugesetzt worden war. Und das bedeutete: Wenn schon nicht der Geschmack dafür sorgte, dass ich mich erbrechen musste – die Bakterien würden es mit Sicherheit schaffen.
»Großartig«, sagte ich und sah mich nach einem Kaktus um, hinter dem ich das Zeug entsorgen konnte. »Was ist das?«
»Iskiate.«
Das kam mir bekannt vor … und dann erinnerte ich mich. Der nicht unterzukriegende Lumholtz war einst, auf halber Strecke bei einer zermürbenden Expedition, auf der Suche nach Nahrung in eine Tarahumara-Behausung gewankt. Vor sich hatte er noch einen Berg, dessen Gipfel er bei Einbruch der Dunkelheit erreicht haben musste. Lumholtz war erschöpft und ziemlich verzweifelt. Er hatte einfach keine Kraft mehr für diesen Anstieg.
»Ich kam eines Spätnachmittags bei einer Höhle an, in der eine Frau dieses Getränk zubereitete«, schrieb Lumholtz später. »Ich war sehr müde und wusste nicht, woher ich die Kraft für den Anstieg an diesem Berg nehmen sollte, um in mein Lager zu gelangen, von dem mich noch etwa 600 Höhenmeter trennten.« Dann fuhr er fort: »Aber nachdem ich meinen Hunger und Durst mit etwas Iskiate gestillt hatte, fühlte ich sofort eine neue Stärke, und zu meinem großen Erstaunen überwand ich den enormen Höhenunterschied ohne große Mühe. Nach diesem Erlebnis fand ich in Iskiate stets einen Freund in der Not, es war so stärkend und erfrischend, dass ich das fast als Entdeckung beanspruchen kann.«
Selbstgebrautes Red Bull! Genau das musste ich jetzt selbst probieren. »Ich werd’s für später aufbewahren«, sagte ich zu Ángel. Dann schüttete ich das Iskiate in eine halbvolle Trinkflasche, deren
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