Born to Run: Ein vergessenes Volk und das Geheimnis der besten und glücklichsten Läufer der Welt (German Edition)
dessen Stute unmittelbar vor dem Western States Trail Ride, dem wichtigsten Ausdauerrennen für Pferde, plötzlich lahmte. Gordy beschloss, trotzdem teilzunehmen. Er stellte sich in Laufschuhen an die Startlinie und begab sich zu Fuß auf die 160 Kilometer lange Strecke durch die Sierra Nevada. Er trank Wasser aus den Flüssen, ließ sich Puls und Blutdruck an den medizinischen Versorgungsstellen von Veterinären messen und unterbot das Zeitlimit von 24 Stunden, das für alle Pferde galt, um 17 Minuten. Gordy war natürlich nicht der einzige Verrückte in Kalifornien, prompt tauchte im folgenden Jahr ein weiterer Läufer beim Pferderennen auf … ein weiteres Jahr später dann noch einer … bis schließlich, im Jahr 1977, die Pferde ganz verdrängt waren und Western States zum ersten 160-Kilometer-Lauf der Welt wurde.
Ken war noch niemals auch nur einen Marathon gelaufen, aber wenn irgendein kalifornischer Hippie 160 Kilometer lang durchhielt: Wie schwer konnte das schon sein? Außerdem würde ein normales Rennen nicht genug Anziehungskraft entwickeln. Wenn Leadville überleben sollte, brauchte es ein Rennen, vor dem die Leute eine Scheißehrfurcht empfanden, etwas, was es von all den anderen leicht verwechselbaren und langweiligen Veranstaltungen, den »Kennst-du-einen-kennst-du-sie-alle«-Marathons im ganzen Land, unterschied.
Also schuf Ken keinen Marathon, sondern ein Monsterrennen.
Um ein Gespür für das zu entwickeln, was er sich ausdachte, versuche man den Boston Marathon mit einer Socke im Mund zweimal nacheinander zu laufen und marschiere anschließend bis zum Gipfel des Matterhorns.
Geschafft?
Großartig. Jetzt das Ganze nochmal, aber diesmal mit geschlossenen Augen. Das entspricht in etwa dem, was beim Leadville Trail 100 verlangt wird: fast vier vollständige Marathons, die Hälfte davon bei Dunkelheit, mit zwei Anstiegen von rund 780 Höhenmetern genau in der Mitte. Der Start in Leadville liegt doppelt so hoch wie die Flughöhe, ab der in Flugzeugen für Druckausgleich gesorgt wird, und vom Start weg geht es nur bergauf.
»Das Krankenhaus verdient durch unser Rennen viel Geld«, räumt Ken Chlouber heute frohgemut ein, 25 Jahre nach dem ersten Rennen und seiner Auseinandersetzung mit Dr. Woodward. »Es ist das einzige Wochenende, an dem alle Hotelbetten und alle Betten in der Notaufnahme zur gleichen Zeit voll belegt sind.«
Ken muss das wissen. Er ist jedes Leadville-Rennen mitgelaufen, obwohl er beim ersten Versuch wegen Unterkühlung selbst ins Krankenhaus kam. In Leadville stürzen immer wieder Läufer über Felskanten, brechen sich den Knöchel, leiden an Unterkühlung, an seltsamen Herzrhythmusstörungen und an Höhenkrankheit.
Man muss weiterhin die Daumen drücken, aber in Leadville kam bis heute noch niemand zu Tode, vielleicht, weil die Rennstrecke die meisten Läufer kleinkriegt, bevor sie kollabieren. Dean Karnazes, der selbsternannte Ultramarathon Man, kam bei seinen beiden ersten Versuchen nicht ins Ziel. Die Leute in Leadville sahen ihn zweimal aussteigen und gaben ihm dann ihren eigenen Spitznamen: »Ofer« (»O fer one, O fer two …«). Jahr für Jahr kommt weniger als die Hälfte des Teilnehmerfeldes im Ziel an.
Es kann nicht überraschen, dass ein Wettkampf, bei dem mehr Teilnehmer aussteigen als ankommen, tendenziell einen besonderen Athletentyp anzieht. Fünf Jahre lang beherrschte Steve Peterson das Leadville-Rennen, ein Mann, der in Colorado Mitglied einer Sekte namens Divine Madness war, die nach einem höheren Bewusstsein strebte und mithilfe von Sexpartys, extremen Querfeldeinläufen und preiswerten Putzleistungen das Nirwana zu erreichen suchte. Eine andere Leadville-Legende ist Marshall Ulrich, ein leutseliger Hundefutter-Tycoon, der seine Zeiten verbesserte, indem er sich vom Chirurgen die Zehennägel entfernen ließ. »Sie sind sowieso immer wieder abgefallen«, sagte Marshall.
Als Ken Aron Ralston begegnete, dem Felskletterer, der sich mit der abgebrochenen Klinge eines Allzweckwerkzeugs die eigene Hand abgeschnitten hatte, die unter einem Felsbrocken eingeklemmt war, machte er ihm ein erstaunliches Angebot: Falls Aron jemals in Leadville antreten wollte, müsste er nichts bezahlen. Kens Einladung verblüffte jeden, der davon hörte. Der Titelverteidiger muss bezahlen, wenn er wieder antritt. Der heldenhafte Großmeister Ed Williams muss nach wie vor bezahlen. Ken muss zahlen. Aber Aron bekam einen Gratisstart – warum?
»Weil sein Beispiel die Quintessenz
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