Born to Run: Ein vergessenes Volk und das Geheimnis der besten und glücklichsten Läufer der Welt (German Edition)
auch nicht einfach fünf Jungs auf einem Schulhof in Chicago aufsammeln und erwarten, dass sie die Bulls besiegten: Wenn man ein Tarahumara-Läufer ist, heißt das noch lange nicht, dass man ein großartiger Tarahumara-Läufer ist. Patrocinio wollte Fisher entgegenkommen, indem er Läufer verpflichtete, die in der Nähe der neuen geteerten Straße lebten, er ging davon aus, dass sie mit Fremden besser zurechtkommen würden und für die Reise auch leichter zusammenzutrommeln wären. Aber die Tarahumara, die am leichtesten für so eine Sache zu verpflichten waren, mochten nicht unbedingt diejenigen sein, deren Verpflichtung sich empfahl – wie das Olympische Komitee Mexikos schon vor einigen Jahren begriffen haben sollte.
»Lass es uns nochmal versuchen«, drängte Patrocinio. Fishers Sponsoren hatten eine ganze Menge Mais an Patrocinios Dorf geliefert, und dieser wollte nicht mehr auf den unverhofften Zusatzertrag verzichten. Diesmal würde er das Team auch für Läufer öffnen, die nicht in seinem Dorf lebten. Er würde in die Canyons zurückgehen – und auch in eine andere Zeit. Das Team Tarahumara besann sich auf die alten Traditionen.
Jawohl, »alt« traf den Nagel auf den Kopf.
Ken war von der neuen Tarahumara-Gruppe, die beim nächsten Lauf in Leadville auftauchte, nicht übermäßig beeindruckt. Deren Teamkapitän sah aus wie ein Wichtel, der sich in Miami Beach vorzeitig zur Ruhe gesetzt hatte: Er war ein klein gewachsener, 55 Jahre alter Großvater, der ein blaues Gewand mit auffälligem rosafarbenem Blumenmuster trug, dazu noch ein sorgloses Lächeln, einen rosa Schal und eine Wollmütze, die er sich über die Ohren gezogen hatte. Ein zweiter Kerl musste schon über 40 sein, und die beiden schüchternen Jungs hinter ihm waren jung genug, um als seine Söhne durchzugehen.
Die ganze Expedition war sogar noch schlechter ausgerüstet als im Vorjahr. Gleich nach der Ankunft verschwand das Team Tarahumara auf der städtischen Müllkippe und kam mit aus Reifen geschnittenen Gummistücken zurück, aus denen dann Sandalen gefertigt wurden. Diesmal würde es keine schwarzen Chucks geben, in denen man sich die Füße wundrieb.
Wenige Sekunden vor dem Start verschwanden die Tarahumara. Der gleiche Biss wie im letzten Jahr, dachte Ken verächtlich; die ängstlichen Tarahumara hatten sich, wie beim ersten Auftritt im Vorjahr, am Schluss des Feldes versteckt. Mit dem Startschuss gingen sie auf den letzten Plätzen ins Rennen. Und dort blieben sie auch, ignoriert und bedeutungslos …
… bis Kilometer 65, als Victoriano Churro (der Wichtel mit einer Vorliebe für Pastellfarben) und Cerrildo Chacarito (der Ziegenbauer jenseits der 40) in aller Ruhe, fast lässig, damit begannen, das Feld von hinten aufzurollen. Zu Beginn des etwa fünf Kilometer langen Anstiegs zum Hope Pass überholten sie mehrere Konkurrenten gleichzeitig. Manuel Luna zog mit und platzierte sich zwischen den beiden, und die drei älteren Tarahumara führten die jüngeren an, wie ein Wolfsrudel auf der Jagd.
Heija! Ken brüllte und schrie wie ein Stierreiter, als er die Tarahumara nach dem Wendepunkt bei 80 Kilometern auf sich zukommen sah. Hier geschah etwas Merkwürdiges, Ken sah das an ihrem seltsamen Gesichtsausdruck. Im vergangenen Jahrzehnt hatte er jeden einzelnen Leadville-Läufer beobachtet, und nicht einer von ihnen hatte so außergewöhnlich … normal ausgesehen. Zehn Stunden Dauerlauf in den Bergen holen dich entweder von den Beinen, oder man sieht sie dir im Gesicht an. Ausnahmen gibt es nicht. Selbst die besten Ultralangstreckler halten in dieser Phase den Kopf gesenkt, mobilisieren alle Kräfte und konzentrieren sich auf die nahezu unlösbare Aufgabe, einen Fuß dem anderen folgen zu lassen. Aber dieser alte Typ? Victoriano? Absolut cool. Als ob er gerade von einem Schläfchen aufgewacht wäre, sich am Bauch gekratzt und dann beschlossen hätte, den kleinen Jungs mal zu zeigen, wie die Großen dieses Spiel spielen.
Bei der 60-Meilen-Marke, kurz vor Kilometer 100, flogen die Tarahumara nur so dahin. In Leadville gibt es etwa alle 25 Kilometer Versorgungsstationen, wo die Helfer für ihre Läufer Essen, frische Socken und Taschenlampenbatterien bereithalten, aber die Tarahumara waren so schnell, dass Rick und Kitty nicht schnell genug um den Berg herumfahren konnten, um mit ihnen mithalten zu können.
»Sie schienen sich mit dem Untergrund zu bewegen«, sagte ein von Ehrfurcht ergriffener Zuschauer, »so ähnlich wie eine Wolke
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