Born to Run: Ein vergessenes Volk und das Geheimnis der besten und glücklichsten Läufer der Welt (German Edition)
oder flattert, ist eine große Kunst. Und dann liefen sie wieder los und blieben Johnny Sandoval dicht auf den Fersen. Martimano Cervantes und Juan Herrara waren bereits außer Sichtweite, als Ann Trason bei der Versorgungsstation ankam.
Irres Tempo, dachte Sandoval, als er über die Schulter einen Blick zurück wagte. Hat irgendjemand diesen Burschen gesagt, dass es hier in den beiden letzten Wochen nur geregnet hat? Sandoval wusste, dass sie diese Strecke geradewegs in eine große Matschlandschaft führte, in das Sumpfland, das die Twin Lakes umgab, und in den Morast, der auf der anderen Seite des Hope-Passes vorherrschte. Der Arkansas River würde donnerndes Hochwasser führen; sie würden sich, eine Hand vor die andere setzend, auf einer Sicherheitsleine über den Fluss hangeln müssen, und dann folgten die 600 Höhenmeter hinauf zum Hope-Pass. Schließlich kam der Umkehrpunkt, und auf dem Rückweg wartete noch einmal dieselbe Strecke.
Okay, das ist der reine Selbstmord, erkannte Sandoval, als er nach 3 Stunden und 20 Minuten die 23,5-Meilen-Marke (37,8 Kilometer) erreichte. Ich werde jetzt Kraft sparen und mir diese Burschen schnappen, wenn sie platt sind . Er ließ Martimano Cervantes und Juan Herrera ziehen – und wurde fast im nächsten Augenblick von Ann Trason überholt. Wo zum Teufel kam die her? Ann sollte es besser wissen. Dieses Tempo war mörderisch.
Bei der 30-Meilen-Marke (nach 48 Kilometern) waren Martimano und Juan in Frühstückslaune. Kitty Williams klatschte ihnen dünne Bohnenburritos auf die Hand. Die beiden rannten weiter, zufrieden kauend, und verschwanden kurz darauf im dichten Wald, der den Mount Elbert umgab.
Ann traf wenige Minuten später ein, sie war sauer und rief: »Wo ist Carl? Wo zum Teufel ist er?« Mittlerweile war es 8 Uhr 20, und sie wollte etwas Ballast abwerfen, indem sie ihre Taschenlampe und ihre Jacke ablegte. Aber sie lag so deutlich unter der Rekordzeit, dass ihr Ehemann noch gar nicht bei der Versorgungsstation eingetroffen war.
Zur Hölle mit ihm. Ann behielt ihre Nachtausrüstung und verschwand wieder, sie setzte sich auf die Fährte der unsichtbaren Tarahumara.
Bei Kilometer 64 umstand die Betreuerschar die alte Feuerwache in dem winzigen Holzhüttendorf Twin Lakes und prüfte die Uhrzeit. Die ersten Läufer würden vielleicht noch auf sich warten lassen, noch eine weitere, äh, etwa …
»Da kommt sie!«
Ann hatte den Anstieg schon hinter sich. Victoriano war im Vorjahr nach 7 Stunden und 20 Minuten soweit gewesen; Ann hatte es diesmal in weniger als sechs Stunden geschafft. »Noch nie hat eine Frau an diesem Punkt geführt«, sagte Scott Tinley, zweimaliger Ironman-Weltmeister, der als Fernsehkommentator für ABC’s Wide World of Sports mit von der Partie war, mit ungläubigem Staunen. »Wir erleben hier die unglaublichste Demonstration ungezügelten Mutes im aktuellen Sportgeschehen.«
Mit weniger als einer Minute Rückstand tauchten Martimano und Juan aus dem Wald auf und liefen hinter Ann den Berg herunter. Tony Post, der Rockport-Mann, ließ sich von dem dramatischen Geschehen so mitreißen, dass ihm zu diesem Zeitpunkt ganz egal war, dass seine Jungs nicht nur zurücklagen, sondern auch noch die Schuhe weggeworfen hatten, für deren Benutzung er sie bezahlte. »Es war ganz unglaublich«, sagte Post, der früher einmal selbst ein Marathonläufer von nationalem Niveau gewesen war, mit Bestzeiten im unteren 2:20er-Bereich. »Wir flippten einfach aus, als wir sahen, wie diese Frau das Heft in die Hand nahm.«
Zum Glück war Anns Ehemann diesmal zur Stelle. Er drückte ihr eine Banane in die Hand, dann führte er sie zum medizinischen Check in die kleine Feuerwache. Alle Leadville-Läufer müssen nach 40 Meilen ihren Puls und ihr Gewicht überprüfen lassen, denn ein zu schneller Gewichtsverlust ist ein frühes Warnsignal für eine gefährliche Dehydrierung. Nur mit Doc Pernas Erlaubnis dürfen sie wieder in die Knochenmühle hinaus: Dort, jenseits des Sumpflandes, erwartete sie ein Anstieg von 780 Höhenmetern bis hinauf zum Hope-Pass.
Ann kaute ihre Banane, und eine Krankenschwester namens Cindy Corbin stellte die Waage ein. Einen Augenblick später tauchte Martimano neben Ann an der Waage auf.
»Cómo estás?«, fragte ihn Kitty Williams und legte ihm dabei mit einer aufmunternden Geste die Hand auf die Schulter. Wie geht’s denn so nach fast sechs Stunden Dauerlauf in bergigem Gelände, in großer Höhe und bei diesem unglaublichen
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