Born to Run: Ein vergessenes Volk und das Geheimnis der besten und glücklichsten Läufer der Welt (German Edition)
Demonstration von Stärke, die es bei einem nationalen Titelrennen jemals gab: Vigils Läufer belegten 1992 bei der Meisterschaft der NCAA Division II die ersten fünf Plätze und verbuchten so die einzige mannschaftlich geschlossene Distanzierung der Konkurrenz, die es bei einer Landesmeisterschaft jemals gab. Vigil führte außerdem Pat Porter zu acht amerikanischen Meistertiteln im Querfeldeinlauf (der Marathon-Olympiasieger Frank Shorter brachte es zu vier Titeln, der Silbermedaillengewinner Meb Keflezighi zu zweien) und sammelte die Rekordzahl von 14 Auszeichnungen als College National Coach of the Year. Vigil wurde 1988 auch zum Coach der für die Olympischen Spiele in Seoul qualifizierten amerikanischen Langstreckler ernannt.
Und das erklärte, warum der alte Joe Vigil in jenem Augenblick der einzige Trainer in Amerika war, der morgens um vier bei Eiseskälte im Wald seinen Posten bezog, um sich eine Collegelehrerin für Naturwissenschaften und sieben Männer in Lendentüchern anzusehen. Es war einfach so, dass im Ultralangstreckenlauf nichts zusammenpasste; und wenn Joe Vigil kein System in die Sache brachte, wusste er, dass ihm irgendetwas sehr Wichtiges entgangen war.
Man sehe sich nur diese Gleichung an: Wie ist es zu erklären, dass in Leadville fast alle Frauen ins Ziel kommen, aber weniger als die Hälfte der Männer? Jahr für Jahr warten mehr als 90 Prozent der Läuferinnen mit einer silbernen Gürtelschnalle auf, und gut 50 Prozent der Männer mit einer Ausrede. Nicht einmal Ken Chlouber hat eine Erklärung für die außergewöhnlich hohe Erfolgsquote der Frauen, aber er kann sie ganz gut für seine Zwecke nutzen: »Alle meine Schrittmacher sind Frauen«, sagt Chlouber. »Die packen das.«
Oder versuchen Sie es einmal mit diesem in Worte gefassten Problem: Was kommt heraus, wenn man die Tarahumara aus dem letztjährigen Rennen streicht?
Antwort: Eine Frau läuft um den Gesamtsieg mit.
In dem ganzen Tumult um die Tarahumara beachteten außer Joe Vigil nur wenige Leute die bemerkenswerte Tatsache, dass Christine Gibbons nur um Haaresbreite den dritten Platz verpasst hatte. Wäre Rick Fishers Van in Arizona der Keilriemen gerissen, dann wäre eine Frau bis auf 31 Sekunden an den Gesamtsieg herangekommen.
Wie war das möglich? Über eine Meile fand sich unter den 50 schnellsten Läufern aller Zeiten keine Frau (den aktuellen Frauen-Weltrekord von 4.12 Minuten schafften vor 100 Jahren Männer, heute laufen bereits Highschooljungs ziemlich regelmäßig solche Zeiten). Eine Frau könnte sich bei Marathonrennen unter die besten 20 einreihen (Paula Radcliffes Weltrekord von 2:15.25 Stunden aus dem Jahr 2003 war damals nur zehneinhalb Minuten langsamer als Paul Tergats Männerrekord von 2:04.55 Stunden). Aber auf den Ultralangstrecken räumten die Frauen ab. Warum, so fragte sich Vigil, wurde der Abstand zwischen Männern und Frauen geringer, wenn die Strecke länger war – sollte es nicht genau andersherum sein?
Der Ultralangstreckenlauf schien ein Paralleluniversum zu sein, in dem die Naturgesetze des Planeten Erde nicht galten; Frauen waren stärker als Männer; alte Männer waren stärker als junge Hüpfer; Steinzeitmenschen mit Sandalen waren stärker als alle anderen. Und die zurückgelegten Strecken! Die Belastung für die Beine war jenseits aller Statistik. Ein Laufpensum von 160 Kilometern pro Woche galt als Garantie für Verletzungen durch Überbelastung, doch die Ultrafreaks liefen 160 Kilometer an einem Tag . Einige von ihnen absolvierten im Training Woche für Woche das doppelte Pensum und verletzten sich dennoch nicht. Sorgte der Ultralangstreckenlauf für eine automatische Auswahl, fragte sich Vigil – zog er nur Läufer an, deren Körper keine Belastungsgrenzen kannten? Oder hatten die Ultralangstreckler das Geheimnis des Megalaufpensums entdeckt?
Also hatte sich Joe Vigil mitten in der Nacht mühsam aus dem Bett gequält, hatte sich eine Thermoskanne mit Kaffee geschnappt, sich in sein Auto gesetzt und war in die Nacht hinausgefahren, um diesen Körpergenies beim Laufen zuzusehen. Seine Vermutung lautete, dass die besten Ultralangstreckenläufer der Welt Geheimnissen dicht auf den Fersen waren, die die Tarahumara nie vergessen hatten. Vigils Theorie hatte ihn ins Vorfeld einer sehr wichtigen Entscheidung geführt, hin zu einer Entscheidung, die sein Leben und, so hoffte er, das Leben von Millionen weiteren Menschen verändern würde. Er musste die Tarahumara nur noch mit eigenen
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