Born to Run: Ein vergessenes Volk und das Geheimnis der besten und glücklichsten Läufer der Welt (German Edition)
Tempo?
»Frag ihn, was das für ein Gefühl ist, wenn man von einer Frau besiegt wird«, rief Ann. Auf diese Bemerkung hin erhob sich ein nervöses Gelächter im Raum, aber Ann zeigte kein Lächeln. Sie fi xierte Martimano, als wäre sie eine Schwarzgurtträgerin und er ein Stapel Ziegelsteine. Kitty sah sie entsetzt an, aber Ann ignorierte das und hielt den Blick auf Martimano gerichtet. Der wandte sich mit einer fragenden Geste Kitty zu, doch die zog es vor, nicht zu übersetzen. Nach all den Jahren, in denen Kitty selbst Ultramarathons gelaufen war und ihrem Vater Schrittmacherdienste geleistet hatte, erlebte sie hier zum ersten Mal, wie ein Läufer (oder, genauer: eine Läuferin) einen anderen Teilnehmer verspottete.
Im Gegensatz zu dem, was die meisten in diesem Raum anwesenden Personen gehört hatten, sollte eine Videoaufzeichnung des Vorfalls später nahelegen, dass Anns eigentliche Worte folgendermaßen lauteten: »Frag ihn, was das für ein Gefühl ist, mit einer Frau zu konkurrieren.« Der genaue Wortlaut blieb zwar umstritten, doch Anns Einstellung war unmissverständlich: Sie würde nicht einfach nur durch engagiertes Laufen, sondern durch engagiertes Wettkämpfen gewinnen. Das hier wurde mit letzter Konsequenz ausgetragen.
Martimano stieg von der Waage, und im selben Moment drängte sich Ann an ihm vorbei und stürmte zur Tür hinaus. Sie schnallte sich die Gürteltasche um – frisch bepackt mit Kohlenhydratgel, Handschuhen und einer Regenhaut, falls sie es oberhalb der Baumgrenze mit Schneeregen oder eisigem Wind zu tun bekam – und machte sich auf den Weg, der den schneebedeckten Berg hinaufführte. Anns Aufbruch geschah so plötzlich, dass Martimano und Juan immer noch auf ihren Orangenscheiben herumkauten, als sie um die Ecke bog und außer Sichtweite war.
Was stimmte nicht mit ihr? Das dumme Gerede, der eilige Abgang – Ann nahm sich nicht einmal Zeit, ein frisches Trikot anzuziehen oder ein paar Happen mehr zu essen. Und warum führte sie zu diesem Zeitpunkt überhaupt? Die 40-Meilen-Marke war nur die erste Runde in einem sehr langen Kampf. Sobald man nach vorne geht, ist man verwundbar. Man verzichtet auf jegliches Überraschungsmoment und wird zum Gefangenen des eigenen Tempos. Schon ganz junge Meilenläufer wissen, dass die schlaue Taktik darin besteht, sich an die Fersen des Führenden zu heften und dabei nur so schnell zu laufen wie nötig, um dann in der Schlussrunde aufzudrehen und vorbeizuziehen. Das klassische Beispiel hierfür war Steve Prefontaine. »Pre« zog bei den Olympischen Spielen 1972 in München das Tempo zweimal zu früh an und wurde beide Male abgefangen. Auf der Zielgeraden hatte er nichts mehr zuzusetzen, kam als Vierter ins Ziel und fiel aus den Medaillenrängen. Diese historische Niederlage diente als nachhaltige Lehre: Niemand sollte ohne Not die Verfolgerrolle aufgeben. Es sei denn, man ist töricht oder unbekümmert – oder Garri Kasparow.
Kasparow unterlief bei der Schachweltmeisterschaft 1990 gleich zu Beginn einer entscheidenden Partie ein fürchterlicher Fehler, durch den er seine Dame verlor. Schachgroßmeister in aller Welt stöhnten bei diesem Schnitzer gequält auf. Der böse Bube des Schachbretts war jetzt Fallobst (ein wenig wohlwollender Beobachter von der New York Times zeigte ein gut sichtbares höhnisches Grinsen). Nur war überhaupt kein Fehler passiert. Kasparow hatte seine stärkste Figur ganz bewusst geopfert, um sich einen noch stärkeren psychologischen Vorteil zu verschaffen. Er war am gefährlichsten, wenn er draufgängerisch agierte, nachdem er in eine Ecke gedrängt worden war und sich seinen Weg um sich schlagend, raufend und improvisierend freikämpfen musste. Anatoli Karpow, sein stets nach dem Lehrbuch agierender Kontrahent, war zu konservativ, um Kasparow gleich zu Beginn der Partie unter Druck zu setzen, also setzte sich Kasparow mit einem Damenopfer selbst unter Druck – und gewann.
Ann ging genauso vor. Anstatt die Tarahumara zu jagen, verlegte sie sich auf die riskante, unerwartete Strategie, sich von den Tarahumara jagen zu lassen. Wer ist zu guter Letzt eher auf den Sieg aus: das Raubtier oder die Beute? Der Löwe kann verlieren und abermals auf die Jagd gehen, aber die Antilope darf nicht einmal einen Fehler machen. Ann wusste, dass sie für einen Sieg über die Tarahumara mehr als nur Willenskraft brauchte: Sie musste sich fürchten. Sobald sie ganz vorne lag, würde sie jeder knackende Zweig mit neuer Kraft dem Ziel
Weitere Kostenlose Bücher