Born to Run: Ein vergessenes Volk und das Geheimnis der besten und glücklichsten Läufer der Welt (German Edition)
trinken (und nahmen auch einige Tassen wirklich leckerer Nudelsuppe zu sich, die ihnen irgendjemand in die Hand gedrückt hatte). Dann machten sie sich mit schnellen Schritten auf der anderen Seite des Berges an den Abstieg. Ann war inzwischen außer Sichtweite.
Ann erreichte die 80-Kilometer-Marke bereits um 12 Uhr 5, fast zwei Stunden früher als Victoriano bei seinem Vorjahressieg. Carl gab ihr Sportgetränke und Cytomax-Kohlenhydratgel, und dann schnappte er sich seine eigene Gürteltasche und schnürte die Laufschuhe. Nach den Leadville-Regeln darf sich ein Läufer auf den zweiten 80 Kilometern von einem »Muli« begleiten lassen. Das bedeutete, dass Ann jetzt bis zur Ziellinie einen persönlichen Betreuer an ihrer Seite haben würde.
Bei einem Ultramarathon ist ein guter Schrittmacher eine gewaltige Hilfe, und Ann hatte einen der besten: Carl war nicht nur schnell genug, um Ann anzutreiben, er hatte auch genügend Erfahrung, um die Führungsrolle zu übernehmen, wenn ihr Kopf sie im Stich ließ. Ein Ultralangstreckler kann nach 20 oder mehr Stunden ununterbrochenen Laufens so abgestumpft sein, dass er vergisst, die Taschenlampenbatterien zu ersetzen, oder Wegzeichen übersieht oder sogar, wie es in dem unglücklichen, aber wahren Fall eines Badwater-Läufers 2005 geschehen ist, zwischen einem unmittelbar bevorstehenden und einem bereits einsetzenden Stuhlgang nicht mehr unterscheiden kann.
Und das sind nur die Läufer, die ihre Sinne wirklich beisammen haben. Den anderen sind Sinnestäuschungen keineswegs fremd. Ein Ultralangstreckler rannte einst immer wieder schreiend und mit großen Sprüngen in den Wald, sobald er das Licht einer Taschenlampe entdeckte, weil er überzeugt war, es sei ein auf ihn zufahrender Zug. Ein Läufer erfreute sich im Tal des Todes in Kalifornien der Gesellschaft einer sehr scharfen Schönheit, die ihn kilometerlang auf Rollerblades begleitete und einen silbernen Bikini trug, bis sie sich schließlich – zu seinem Bedauern – in einem Hitzeflimmern auflöste. Sechs von 20 Badwater-Läufern berichteten in jenem Jahr von Halluzinationen, und bei diesen Geschichten ging es unter anderem um direkt neben der Straße verwesende Leichname und »mutierte Mäusemonster«, die über den Asphalt krabbelten. Eine Schrittmacherin geriet etwas außer Fassung, als sie sah, wie ihr Läufer eine Zeit lang ins Leere starrte und schließlich die leere Luft beschied: »Ich weiß, dass du nicht wirklich existierst.«
Ein zäher Schrittmacher kann aus diesen Gründen seinem Läufer das Rennen retten; wenn er auf der Höhe des Geschehens ist, kann er auch zum Lebensretter werden. Das Beste, was Martimano deshalb – ungünstigerweise – erhoffen konnte, war, dass der ungepflegt aussehende Sonderling, dem er in der Stadt begegnet war, auch tatsächlich auftauchte – und sogar laufen konnte.
Rick Fisher hatte die Tarahumara am Vorabend des Rennens zu einem Spaghetti-Dinner in der Veteranenhalle von Leadville geführt, um sich dort noch nach ein paar Schrittmachern umzusehen. Das würde nicht leicht sein. Die Schrittmacherrolle ist eine so aufreibende und undankbare Aufgabe, dass sich in der Regel nur Familienangehörige, Narren und verdammt gute Freunde zu so etwas überreden lassen. Sie bringt es mit sich, dass man an den entlegensten Orten stundenlang frierend das Auftauchen des eigenen Läufers erwartet, und dann geht es bei Sonnenuntergang los, auf einen die ganze Nacht dauernden Lauf über vom Wind zerzauste Berghänge. Man holt sich blutige Schienbeine, kotzt auf die eigenen Schuhe und bekommt nicht einmal ein T-Shirt dafür, dass man in einer einzigen Nacht die doppelte Marathonstrecke hinter sich gebracht hat. Zu den weiteren Anforderungen zählen das Wachehalten, während sich der Läufer auf matschigem Untergrund ein kurzes Nickerchen gönnt, das Aufstechen einer Blutblase zwischen den Pobacken, wofür man die Fingernägel verwendet, und das Aushändigen der eigenen Jacke – obwohl man selbst mit den Zähnen klappert -, weil die Lippen des Schützlings blau angelaufen sind.
Martimano nahm bei diesem Spaghetti-Dinner Blickkontakt zu einem langhaarigen Einheimischen auf, der aus irgendeinem seltsamen Grund sofort heftig zu lachen begann. Auch Martimano musste lachen. Er fand diesen ungepflegten Kerl absolut cool und lustig. »Du und ich passen zusammen, Bruder«, sagte Shaggy, der Ungepflegte. »Verstehst du? Tú y yo . Wenn du ein Maultier brauchst: Ich bin dabei.«
»Moment mal«, rief
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