Born to Run: Ein vergessenes Volk und das Geheimnis der besten und glücklichsten Läufer der Welt (German Edition)
Chabochis das Gefühl vermittelt, wie Sklaven behandelt zu werden. Das war das Ende von Team Tarahumara. Die Gruppe löste sich auf – für immer.
Micah True (oder wie er auch immer in Wirklichkeit hieß) fühlte sich den Tarahumara so sehr verbunden und war zugleich vom Verhalten seiner amerikanischen Landsleute so angewidert, dass er sich zur Wiedergutmachung genötigt sah. Unmittelbar nach seinen Schrittmacherdiensten für Martimano beim Leadville-Rennen von 1994 gelang es ihm, über einen Radiosender in Boulder/Colorado einen Spendenappell zu verbreiten, bei dem er alle Menschen, die einen alten Mantel erübrigen konnten, bat, diesen beim Sender abzugeben. Sobald der Kleiderhaufen groß genug war, bündelte er diese Stücke und brach zu den Copper Canyons auf.
Er hatte keine Ahnung, wo er suchen sollte, die Chance, seinen Laufgefährten Martimano wiederzufinden, hielt er für etwa genauso groß wie Shackletons Chance, aus der Antarktis wieder heimzukehren. Er durchwanderte die Wüste und die Canyons und fragte jeden Menschen, der ihm begegnete, nach Martimano, bis er schließlich sich selbst und Martimano verblüffte, indem er es auf den Gipfel eines 2700 Meter hohen Berges schaffte und dort in dessen Heimatdorf gelangte. Die Tarahumara hießen ihn auf ihre eigene, wortlose Art willkommen: Sie sprachen kaum mit ihm, aber beim Aufwachen fand Caballo jeden Morgen vor seinem Zelt einen kleinen Stapel selbstgemachter Tortillas und frischen Pinole vor.
»Die Rarámuri haben kein Geld, aber niemand ist arm«, sagte Caballo. »In den Vereinigten Staaten bringen sie dich zum Obdachlosenheim, wenn du jemanden um ein Glas Wasser bittest. Hier bittet man dich herein und gibt dir etwas zu essen. Du fragst nach einem Platz, wo du dein Zelt aufschlagen kannst, und sie antworten, ›Kein Problem, aber willst du nicht lieber hier drin bei uns schlafen?‹«
Aber in Choguita wird es nachts kalt, zu kalt für einen mageren Burschen aus Kalifornien (oder wo immer er wirklich herkam), also verabschiedete sich Micah, nachdem er all seine Mäntel verteilt hatte, von Juan und Martimano und zog auf eigene Faust los, hinunter in die angenehmer temperierten Tiefen der Canyons. Er wanderte blindlings an Drogenhöhlen und Banditen vorbei, entging auch Krankheiten und dem Canyonfieber und entdeckte schließlich, an einer Biegung des Flusses, einen Ort, der ihm gefiel. Dort häufte er Steine zu einer Hütte auf und schuf sich ein Zuhause.
»Ich habe beschlossen, dass ich den besten Ort der Welt zum Laufen finden würde, und dieser Ort war’s«, sagte er, als wir in jener Nacht zum Hotel zurückgingen. »Als ich ihn zum ersten Mal sah, stand mir der Mund offen. Ich war fürchterlich aufgeregt, weil ich es nicht abwarten konnte, auf diesem Weg zu laufen. Ich war so überwältigt, dass ich nicht wusste, wo ich anfangen sollte. Aber das ist eine wilde Gegend. Ich musste ein bisschen Geduld haben.«
Er hatte ohnehin keine andere Wahl. In Leadville war er nur deshalb als Schrittmacher aufgetreten, anstatt selbst am Rennen teilzunehmen, weil ihn seine Beine immer wieder im Stich ließen, als er die 40 überschritten hatte. »Ich war oft verletzt, vor allem die Sehnen am Sprunggelenk haben mich beschäftigt«, sagte Micah. Im Lauf der Jahre hatte er jede mögliche Abhilfe ausprobiert – Umschläge, Massagen, teurere und fußstabilisierende Schuhe -, aber nichts half auf Dauer. Bei seiner Ankunft in den Barrancas beschloss er, alle Logik fahren zu lassen und darauf zu vertrauen, dass die Tarahumara wussten, was sie taten. Er würde sich nicht die Zeit nehmen, mühsam ihre Geheimnisse herauszufinden. Es sollte ein Sprung ins kalte Wasser werden, genauer: ins Wasserloch, er wollte springen und einfach nur das Beste hoffen.
Er zog die Laufschuhe aus und trug jetzt nur noch Sandalen. Er aß Pinole zum Frühstück (nachdem er gelernt hatte, ihn mit Wasser und Honig wie Haferbrei zuzubereiten) und trug ihn bei seinen Canyontouren in trockener Form in einer Hüfttasche bei sich. Er hatte einige böse Stürze zu verkraften, manchmal schaffte er es kaum aus eigener Kraft zu seiner Hütte zurück, aber er biss einfach die Zähne zusammen, wusch seine Wunden im eiskalten Fluss aus und verbuchte dies als Investition in die Zukunft. »Leiden erzieht zur Demut. Es lohnt sich, zu erleben, wie du eins auf die Fresse kriegst«, sagte Caballo. »Ich habe ziemlich schnell gelernt, dass man der Sierra Madre besser mit Respekt begegnet, weil sie dich sonst
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