Born to Run: Ein vergessenes Volk und das Geheimnis der besten und glücklichsten Läufer der Welt (German Edition)
Micah.
Wir hatten unseren Wendepunkt erreicht, und das federnde Laufen auf diesen Pfaden begeisterte mich so sehr, dass ich den Gedanken an den Rückweg hasste, obwohl ich wusste, dass es unvernünftig von mir wäre, mehr als diese 13 Kilometer zu laufen. Caballo wusste genau, was ich sagen wollte.
»Ich habe diese Gefühle seit zehn Jahren«, sagte er. »Und ich lerne immer noch, wie ich mich hier bewegen sollte.« Aber er musste sich beeilen; an diesem Tag wollte er zu seiner Hütte zurückkehren, die Zeit reichte kaum, um es bis zum Einbruch der Dunkelheit zu schaffen. Und dann erklärte er mir, was er in Creel überhaupt tat.
»Weißt du«, setzte er an, »seit diesem Leadville-Rennen ist viel passiert.« Der Ultralangstreckenlauf war früher etwas für eine Handvoll Freaks gewesen, die mit Taschenlampen durch die Wälder liefen, aber in den letzten paar Jahren hatte es einen enormen Zustrom von »jungen Wilden« gegeben. Das waren Leute wie Karl Meltzer, der sich über seinen iPod »Stranglove« anhörte, während er das Hardrock 100 dreimal nacheinander gewann; und die »Dirt Diva« Catra Corbett, ein wunderschönes, kaleidoskopisch tätowiertes Goth-Mädchen, das einmal, nur so zum Spaß, die ganzen 160 Kilometer von Western States gelaufen war und dann kehrtgemacht hatte, um bis zurück zum Start noch einmal 160 Kilometer zu laufen; und Tony »Naked Guy« Krupicka, der selten mehr als ein Paar knappe Shorts am Leib trug und ein Jahr lang im Wandschrank eines Freundes nächtigte, während er für den Sieg beim Leadville 100 trainierte; und die Fabulous Flying Skaggs Brothers, Eric und Kyle, die zum Grand Canyon trampten und dort dann einen neuen Rekord für die schnellste Runde von Canyonrand zu Canyonrand aufstellten.
Diese jungen Wilden suchten etwas Neues, Hartes und Exotisches, und sie kamen in solchen Scharen zum Geländelauf, dass der bis zum Jahr 2002 zum Freiluftsport mit den landesweit höchsten Zuwachsraten wurde. Sie liebten nicht einfach nur die Rennen; am wichtigsten war ihnen das erregende Gefühl, die schöne neue Welt des eigenen Körpers zu erkunden. Der Ultralangstreckenstar Scott Jurek fasste die inoffizielle Weltanschauung der jungen Wilden mit einem Zitat des amerikanischen Psychologen und Philosophen William James (1842- 1910) zusammen, das er jeder von ihm verschickten E-Mail anfügte: »Jenseits der extremsten Erschöpfung und Qual stoßen wir möglicherweise auf ein Ausmaß an Mühelosigkeit und Kraft, das wir uns so nie erträumt hätten; auf Quellen der Stärke, die niemals in Anspruch genommen wurden, weil wir niemals die Hindernisse überwinden.«
Die jungen Wilden, die jetzt in die Wälder gingen, brachten all das mit, was sie im Lauf des vergangenen Jahrzehnts über Sportwissenschaft gelernt hatten. Matt Carpenter, ein Bergläufer aus Colorado Springs, verbrachte Hunderte von Stunden auf dem Laufband, um die Schwankungen der Körperoszillationen zu messen, wenn er zum Beispiel einen Schluck Wasser trank (die biomechanisch effizienteste Methode, eine Wasserflasche zu transportieren, war in seinem Fall nicht, sie in der Hand zu halten, sondern sie in die Armbeuge zu stecken). Carpenter raute seine Laufschuhe mit einer Schleifmaschine und einer Rasierklinge auf, legte sie in die Badewanne und nahm sie wieder heraus, um die Feuchtigkeitsaufnahme und die Trockengeschwindigkeit zu messen. Sein mit besessenem Arbeitseifer erworbenes Wissen nutzte er 2005, um den Streckenrekord in Leadville zu pulverisieren – er kam mit der verblüffenden Zeit von 15 Stunden und 42 Minuten ins Ziel und war damit fast zwei Stunden schneller, als die schnellsten Tarahumara dort je gewesen waren.
Ja, aber was brachten die Tarahumara erst zustande, wenn man ihnen etwas abverlangte? Genau das wollte Caballo wissen. Victoriano und Juan waren wie Jäger gelaufen, und zwar so, wie man es ihnen beigebracht hatte: schnell genug, um die Beute zu fangen, und keineswegs schneller. Wer konnte wissen, wie schnell sie im Wettkampf mit einem Burschen wie Carpenter gewesen wären? Und niemand wusste, wozu sie auf heimischem Terrain fähig waren. Hatten sie als Titelverteidiger nicht zumindest einmal das Recht, in ihrer Heimat anzutreten?
Wenn die Tarahumara nicht nach Amerika zurückgehen konnten, mussten die Amerikaner zu den Tarahumara kommen, lautete Caballos Schlussfolgerung. Aber er wusste auch, dass die außerordentlich scheuen Canyonbewohner sofort wieder in ihren Bergen verschwinden würden, wenn sie
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