Born to Run: Ein vergessenes Volk und das Geheimnis der besten und glücklichsten Läufer der Welt (German Edition)
durchkaut und anschließend wieder ausspuckt.«
In seinem dritten Jahr in dieser Gegend war Caballo auf Pfaden unterwegs, die für den Nicht-Tarahumara unsichtbar waren. Mit Schmetterlingen im Bauch lief er über die Kante zerklüfteter Gefällstrecken, die länger und steiler waren und mehr Spitzkehren hatten als jede schwarze Abfahrt im Gebirge.
Kilometerlang rutschte, kletterte und sprintete er mehr oder weniger kontrolliert bergab, verließ sich dabei auf seine im Canyon geschulten Reflexe, rechnete aber auch jederzeit damit, dass ein Meniskus oder eine Kniesehne reißen oder ein feuriges Brennen ihm den Riss einer Achillessehne anzeigen könnte.
Aber dieser Fall trat nicht ein. Er verletzte sich nie. Nach ein paar in den Canyons verbrachten Jahren war Caballo stärker, gesünder und schneller als jemals zuvor. »Seit ich hier bin, hat sich meine ganze Einstellung zum Laufen geändert«, sagte er mir. Er prüfte sich, indem er auf einem Weg, für den man zu Pferd drei Tage brauchte, über die Berge lief. Er schaffte es innerhalb von sieben Stunden. Er ist sich nicht sicher, wie das alles zustande kam, welche Anteile Sandalen und Pinole und Korima dabei hatten, aber …
»Hey«, unterbrach ich ihn, »könntest du mir das zeigen?«
»Was soll ich dir zeigen?«
»So zu laufen.«
Etwas an seiner Art zu lächeln ließ mich diese Frage sofort bereuen. »Guuut, ich nehme dich auf einen Lauf mit«, sagte er. »Wir treffen uns bei Sonnenaufgang hier.«
»Pff! Pff!«
Ich versuchte zu rufen, aber es klang immer nur wie ein Keuchen. »Pferd«, brachte ich schließlich heraus, und Caballo Blanco hörte das gerade noch, bevor er bergauf hinter einer Wegbiegung verschwand. Wir waren in die hinter Creel liegenden Hügel aufgebrochen und liefen auf einem felsigen, mit Kiefernnadeln gepolsterten Pfad, der durch den Wald bergauf führte. Wir waren noch keine zehn Minuten unterwegs, und ich rang bereits nach Luft. Es war nicht so, dass Caballo besonders schnell gewesen wäre. Sein Laufstil wirkte nur so mühelos, als ob er die Steigung durch reine Willenskraft und nicht durch Muskeleinsatz bewältigen würde.
Er wandte sich um und trottete mir bergab entgegen. »Okay, Mann, erste Lektion. Klemm dich direkt hinter mich.« Er joggte wieder los, diesmal langsamer, und ich versuchte ihm einfach alles nachzumachen. Meine Arme suchten ebenfalls nach einer neuen Haltung, bis die Hände in Rippenhöhe waren; der raumgreifende Schritt verkürzte sich zu Trippelschritten; mein Rücken straffte sich so sehr, dass ich fast die Wirbel knacken hörte.
»Kämpfe nicht mit dem Weg«, rief mir Caballo über die Schulter zu. »Nimm, was er dir gibt. Wenn du die Wahl hast, zwischen Felsen einen oder zwei Schritte zu machen: Mach drei Schritte.« Caballo ist auf diesen Pfaden seit so vielen Jahren unterwegs, dass er den Steinen unter seinen Füßen sogar besondere Bezeichnungen gegeben hat: Einige sind für ihn ayudantes, die Helfer, die einen kraftvoll ausschreiten lassen; andere sind »Täuscher«, die wie ayudantes aussehen, sich aber beim Abdruck tückisch bewegen; wieder andere sind chingoncitos, kleine Bastarde, die es kaum erwarten können, dich zu Boden zu schicken.
»Zweite Lektion«, rief Caballo. »Denk einfach, mühelos, sanft und schnell . Fang mit einfach an. Wenn das alles ist, was du schaffst, ist das schon ganz ordentlich. Dann arbeitest du an mühelos. Verbinde das Laufen nicht mit Anstrengung, als ob es dir völlig egal wäre, wie hoch der Berg ist oder wie weit du laufen musst. Wenn du das so lange geübt hast, dass du gar nicht mehr ans Üben denkst, dann arbeitest du an saaaanft . Du sorgst dich nicht mehr um den letzten Schritt – wenn du die ersten drei schaffst, wirst du schnell sein.«
Ich richtete meinen Blick auf Caballos Sandalenfüße und versuchte seine seltsamen Schritte nachzuahmen, die aussahen, als käme er auf Zehenspitzen daher. Ich hielt den Kopf so lange unten, dass ich zunächst gar nicht bemerkte, dass wir aus dem Wald herausgelaufen waren.
»Wow!«, rief ich.
Die Sonne ging gerade über den Bergen auf. Der Rauch von Kiefernholz lag in der Luft. Er kam aus den zerbeulten Ofenrohren in den Holzhütten am Ortsrand. In der Ferne sah man in der Mesa riesige Felsen aufragen, die den Steinfiguren auf der Osterinsel glichen, und dahinter die mit Schnee bepuderten Berge. Selbst wenn ich nicht völlig aus der Puste gewesen wäre, hätte es mir den Atem verschlagen.
»Ich hab’s dir gesagt«, freute sich
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