Born to Run: Ein vergessenes Volk und das Geheimnis der besten und glücklichsten Läufer der Welt (German Edition)
sich von einem Rudel unablässig fragender und ständig knipsender amerikanischer Läufer umzingelt sähen.
Aber wie wäre es – das war nun Caballos Geistesblitz -, wenn er ein Rennen nach Tarahumara-Art ausrichten würde? Das wäre wie eine Jam Session unter Gitarristen alter Schule – eine Woche mit Sparring, dem Austausch von Geheimnissen, dem Studium von Stil und Technik der anderen. Und dann, am letzten Tag, würden alle Läufer in einem 80-Kilometer-Rennen der Champions ihre Kräfte messen.
Es war eine großartige Idee – und natürlich ein absoluter Witz. Kein Spitzenläufer würde ein solches Risiko eingehen; das wäre nicht nur Selbstmord an der eigenen Karriere, es wäre schlichtweg Selbstmord. Um auch nur an den Start gehen zu können, müssten sie Banditen aus dem Weg gehen, durch die Einöde wandern und Wasserund Essensvorräte sehr genau einteilen. Wenn sie sich verletzten, waren sie des Todes. Vielleicht nicht sofort, aber das Ende wäre unvermeidlich. Sie könnten mehrere Tagesmärsche von der nächsten Straße und Stunden von der nächsten Quelle oder Wasserstelle entfernt sein, und es gäbe keine Chance, einen Rettungshubschrauber in diese engen Schluchten zu lotsen.
Caballo hatte aber, allen Einwänden zum Trotz, bereits mit der Ausführung dieses Plans begonnen. Das war der einzige Grund für seine Anwesenheit in Creel. Er hatte seine Hütte auf dem Canyongrund verlassen und war zu einem Ort marschiert, den er eigentlich verabscheute, weil er gehört hatte, im Hinterzimmer eines Süßwarengeschäfts in Creel gebe es einen PC mit einer Internetverbindung. Er hatte sich ein paar grundlegende Computerkenntnisse angeeignet, ein E-Mail-Konto eingerichtet, und jetzt verschickte er Botschaften an die Außenwelt. An dieser Stelle kam ich ins Spiel; der einzige Punkt, der das Interesse des »Gringo-Indios« geweckt hatte, als ich ihm im Hotel aufgelauert hatte, war die Information, dass ich ein Autor sei. Vielleicht würde ein Artikel über sein Rennen tatsächlich ein paar Läufer anlocken.
»Wen wirst du dann einladen?«
»Bis jetzt nur eine Person«, lautete die Antwort. »Ich will nur Läufer mit der richtigen Einstellung, echte Champions. Also habe ich Scott Jurek angeschrieben.«
Scott Jurek? Den siebenfachen Sieger von Western States und dreimaligen »Ultrarunner of the Year« Scott Jurek? Caballo musste vollkommen übergeschnappt sein, wenn er glaubte, Scott Jurek würde hierherkommen, um mit einer Horde von Nobodys am Ende der Welt um die Wette zu laufen. Man konnte Scott wohl mit einiger Berechtigung als besten Ultralangstreckenläufer aller Zeiten im ganzen Land, vielleicht sogar weltweit, bezeichnen. Wenn Scott nicht gerade mit Rennen beschäftigt war, dann arbeitete er mit Brooks an der Entwicklung ihres wichtigsten Trailschuhmodells, des Cascadia, zusammen, veranstaltete ausverkaufte Laufcamps oder überlegte, bei welcher hochkarätigen Veranstaltung in Japan, der Schweiz, Griechenland oder Frankreich er als nächstes antreten würde. Scott Jurek war ein Unternehmen, das vollkommen von Scott Jureks eigener Gesundheit abhängig war – und das bedeutete, dass das Risiko, bei irgendeinem bescheuerten, improvisierten Einladungsrennen in einer von Scharfschützen kontrollierten Gegend der mexikanischen Einöde krank, erschossen oder besiegt zu werden, das Letzte war, was der wichtigste Aktivposten der Firma tun sollte.
Aber Caballo hatte irgendwo ein Interview mit Jurek gelesen und sich ihm sofort brüderlich verbunden gefühlt. Scott war auf seine Art fast genauso rätselhaft wie Caballo. Sehr viel weniger bedeutsame Ultrastars wie Dean Karnazes und Pam Reed produzierten sich im Fernsehen, schrieben selbstverherrlichende Memoiren und warben (in Deans Fall) mit nacktem Oberkörper bei einem mit Skycam gefilmten Laufbandauftritt am Times Square für ein Sportgetränk, doch der größte aller amerikanischen Ultralangstreckenläufer blieb praktisch unsichtbar. Anscheinend war er ein reines Renntier, was zwei seiner anderen seltsamen Gewohnheiten erklärte: Am Start eines jeden Rennens stieß er einen Schrei aus, der einem förmlich das Blut in den Adern gefrieren ließ, und nach einem Sieg wälzte er sich auf dem Boden wie ein hyperaktiver Jagdhund. Dann stand er wieder auf, wischte sich den Schmutz ab und verschwand in Richtung Seattle, bis der Zeitpunkt wieder gekommen war, zu dem sein Kriegsruf durch die Dunkelheit hallte.
Das also war die Sorte Champion, die Caballo im Auge hatte.
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